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# taz.de -- Kommentar Wikileaks: Der herausgeforderte Leser
> Wikileaks gibt den LeserInnen die Freiheit zurück, als mündige
> DemokratInnen angesprochen zu werden. Und sorgt vor allem für Transparenz
> bei der Nachrichtenproduktion.
Wikileaks unberechenbare Veröffentlichungspraxis gibt der LeserIn ein Stück
Freiheit zurück: die Freiheit, als mündiger Demokrat angesprochen zu
werden. Journalisten adressieren ihren Käufer zumeist als mehr oder weniger
müden Nachrichtenkonsumenten, der sich vor oder während der Arbeit schnell
für die Konfrontation mit der Restwelt rüstet.
Grundsätzlich geht das auch in Ordnung - solange eingespielte Verfahren
durchbrochen werden können. Solange die Routine - Journalist filtert und
schleift Nachrichten, bis sie mundgerecht sind - beiden Seiten bewusst
bleibt. Nun haben Routinen die lästige Angewohnheit, Vereinbarungen und
Wissenskonstruktionen, also veränderliche Dinge, als naturgegeben, mithin
unveränderlich auszuweisen. Demgegenüber maßt sich Wikileaks an,
Öffentlichkeit auf ungewohnte Weise zu definieren, und grätscht böse in das
allzu oft unhinterfragte Verhältnis Leser/Macher rein. Die Streitfrage
lautet: Was muss die Öffentlichkeit wissen? Dabei akzeptieren die
Leckschlager die Arbeitsteilung zwischen Politik, Journalisten und ihrem
Publikum nicht und bringen mit ihrer Selbstermächtigung - wir bestimmen,
was ihr veröffentlicht - ordentlich Schwung ins Getriebe.
Fünf Zeitungen bekommen einen riesigen und als geheim deklarierten
Datenwust zugespielt und müssen zeigen, wie sie damit umgehen. Die
Konkurrenz zwingt zu schnellem Handeln - daher kommt die Leserin plötzlich
ganz nah ran, an die internationale Presse und an die Welt der
internationalen Diplomatie. Sie kann verfolgen, wie Redaktionen aus
Informationen Nachrichten basteln. Wie sie Daten filtern, wen sie schützen
und wen sie angreifen. Es ist lehrreich und auch amüsant zu verfolgen, wie
der Spiegel die Weltdiplomatie vor allem als Unterhaltungsstück zu
deutschen PolitikerInnen aufbereitet, also gezielt entpolitisiert, hingegen
der Guardian zurückgelehnt das politisch Brisante herausstellt: die
Nahostpolitik der USA im Dialog mit den arabischen Staaten. In Frankreich
interessiert sich Le Monde stark für die Aufnahmeverhandlungen der
Regierung in Sachen Guantánamo-Häftlinge, und die New York Times verteidigt
die Informationspflicht gegenüber Washington. Auch sie wertet den Streit um
den Iran als zentral.
Natürlich warnen Mahner jetzt vor der Überinformation der LeserIn. Selbst
wer nur deutschsprachige Zeitungen liest, hat mitbekommen, dass die Eliten
und die Journalisten erbittert darüber streiten, was die Öffentlichkeit
wissen darf und was nicht. Der Weltfriede sei in Gefahr. Daran dürfte zwar
nicht vorrangig der interessierte Leser schuld sein, aber so einfach lässt
sich das Argument nicht wegwischen. Öffentlichkeit ist ein hohes Gut und
sie kann eine Waffe sein. Demokratie funktioniert nur auf Basis von
Transparenz - und braucht gleichzeitig die Möglichkeit zur Geheimhaltung.
In diesem Spannungsverhältnis bewegen wir uns. Spannend ist nun, wie dieses
vor den Augen der LeserIn neu austariert wird.
Stück für Stück präsentieren die nationalen Redaktionen neue Inhalte aus
dem ehemals geheimen Datensatz. Journalisten und alle netzaffinen Leser
verfolgen natürlich, was die Konkurrenz im Ausland enthüllt, die
Deutungshoheit der nationalen Redaktionen steht auf dem Prüfstand.
Öffentlichkeit wird tatsächlich international.
Das Schöne am Zeitungslesen und am Zeitungsmachen ist die unablässig
genutzte Möglichkeit zur Korrektur. Keine Nachricht und keine Einsicht ist
sakrosankt, sondern wird in aller Regel schon einige Stunden später
(online) oder wenigstens am nächsten Tag (Print) relativiert, neu
angereichert, in weitere Zusammenhänge gestellt: Eine Redaktion ist ein
einziger Korrekturbetrieb.
Auch die jetzt vorgenommenen Einschätzungen der sensiblen Daten werden
korrigiert werden. In dem Sinne zeigt Wikileaks einmal mehr, dass in der
Presse zunächst einmal steht, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gedacht und
gewusst wurde. In welchem Verhältnis das wiederum zur Wahrheit steht, muss
immer wieder neu geprüft werden. Und was ist der Mehrwert dieser hehren
Erkenntnis? Unruhe, Arbeit und die Freiheit, selbst zu denken, aufzuwachen.
Die Idee vom aufgeweckten Leser ist gefährlicher Populismus, sagen die
einen. Sicher. Doch ohne sie gibt es keine Demokratie.
30 Nov 2010
## AUTOREN
Ines Kappert
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