# taz.de -- Ulrich Beck über Atomrisiken: "Wir sind zum Labor geworden" | |
> Katastrophen wie die in Fukushima führen zu einer Erosion des | |
> Demokratieverständnisses, warnt Ulrich Beck. Der Soziologe und | |
> Risikoforscher sieht aber auch neue Handlungsmöglichkeiten. | |
Bild: Die Bilder von der Katastrophe in Japan beeinflussen weltweit die Diskuss… | |
taz: Herr Beck, die Risiken der Kernenergie lassen sich nach Fukushima | |
nicht mehr ignorieren. Müssen solche riskanten Technologien jetzt | |
verstaatlicht werden? | |
Ulrich Beck: Ich halte dies für überlegenswert. Wer kontrolliert die | |
Kontrolleure? Die Verfilzung zwischen der Kernindustrie, den | |
Aufsichtsbehörden und der Politik ist augenfällig. Das gilt für fast alle | |
Länder: Die Aufsicht ist eng mit der industriellen Produktion verzahnt. Im | |
Fall einer Katastrophe wird deutlich, dass die Regierung abhängig ist von | |
den Informationen der privaten Betreiber. Die versuchen, die Informationen | |
in ihrem Sinne zu dosieren. Die Priorität muss auf Sicherheit, | |
Kontrollierbarkeit und Durchsichtigkeit liegen. Ich würde noch einen | |
Schritt weiter gehen: Sie muss auf der Möglichkeit beruhen, Irrtümer | |
einzugestehen. | |
Irrtümer der Atomindustrie haben verheerende Folgen. | |
Ja, wir haben es beispielsweise bei Tschernobyl noch mit einer laufenden | |
Katastrophe zu tun, die unsere gesamten Berechnungsverfahren infrage | |
stellt. Die Kernenergie produziert eine neue Form des Hypothetischen, weil | |
bestimmte Dinge nie im Labor geprüft werden können. Damit hat man die | |
Gesellschaft zum Labor gemacht. Das ist ein Experiment mit offenem Ausgang. | |
Risiken setzen Entscheidungen voraus. Beim GAU ist es für Entscheidungen zu | |
spät. Ist die Rede vom Restrisiko also eine Fiktion, die Beherrschbarkeit | |
vorgaukeln soll? | |
Wenn man einen Unfall auf der Straße hat, gibt es vorgezeichnete Wege, um | |
damit umzugehen: Versicherungsleistungen etwa. Deswegen ist ein großer | |
Bereich unserer riskanten Entscheidungen zu einer Routine geworden, mit der | |
man pragmatisch leben kann. Bei den Folgen der Reaktorkatastrophe in | |
Fukushima haben wir es nicht mit Folgen von Entscheidungen zu tun, die | |
durch institutionelle Arrangements minimiert werden könnten. Wir haben es | |
mit neuartigen, weder räumlich noch zeitlich noch sozial eingrenzbaren | |
Gefahren zu tun, deren Eintrittswahrscheinlichkeit sehr gering ist, die | |
aber auf keinen Fall geschehen dürfen. | |
Gegen einen GAU hilft auch keine Versicherung? | |
Das ist der Punkt. Die Atomkraftwerke sind entsprechend nicht privat | |
versichert. Ein Auto darf man ohne Versicherung nicht fahren. Bei | |
Atomkraftwerken springt - wie bei systemrelevanten Banken - im | |
Katastrophenfall der Staat ein. Im Übrigen besteht die Rationalität des | |
Risikokalküls darin, dass wir Erfahrungen mit Unfällen machen können. Erst | |
auf dem Hintergrund von Erfahrungen können entsprechende Arrangements und | |
Entscheidungen getroffen werden. Im Bereich der Kernenergie dürfen wir | |
diese Erfahrungen gar nicht machen. Das heißt, wenn die Katastrophe | |
eintritt, ist es schon zu spät. Bei riskanten Technologien wie der | |
Kernkraft besteht also der Zwang, eine totale Irrtumslosigkeit zu | |
behaupten, die schon anhand simpler Überlegungen zusammenbricht. | |
Das Vertrauen in die Kernkraft ist also gänzlich irrational? | |
Die Kategorie des Vertrauens ist wesentlich für die Risikoeinschätzung. | |
Ohne Vertrauen ist ein organisierter Umgang mit gefährlichen Zukünften gar | |
nicht möglich. Dieses Vertrauen entsteht aus einem Gesellschaftsvertrag, | |
wie etwa dem institutionalisierten Umgang mit Unfällen. Die | |
Kernenergieindustrie aber hat diesen Gesellschaftsvertrag gebrochen. Das | |
wird deutlich an der fehlenden Rationalitätsgrundlage, dass man eben keine | |
Erfahrungen mit diesen Katastrophen machen darf. | |
Eine moderne Gesellschaft basiert darauf, dass wir ein abstraktes | |
Systemvertrauen in vielen Bereichen an den Tag legen müssen. Wenn die | |
Grundlage dieses Vertrauens untergraben wird: Zerstört das dann den Glauben | |
an die Demokratie? | |
Da werden anthropologische Ängste bei den Menschen wachgerufen, weil nicht | |
mehr klar ist, wie mit diesen Katastrophen umgegangen werden kann. Es gibt | |
einen Zusammenhang zwischen diesen Katastrophen und der Demokratie. Die | |
Politik hat sich durch die Zustimmung zur Kernenergie an das Schicksal | |
dieser Technologie gebunden. Mit dem Eintritt des Unvorstellbaren geht das | |
Vertrauen der Bürger gegenüber den Politikern verloren. Auch Politiker | |
selbst sehen sich plötzlich bei diesen Katastrophen getäuscht. Das setzt | |
eine Erosion der Zustimmung zu den Institutionen der Politik fort, die wir | |
schon in vielen Bereichen erleben. Die Katastrophe erzeugt damit im Kern | |
eine Vertrauens- und Verantwortungskrise. | |
Wird die Katastrophe in Japan, die ja in einer der am weitesten | |
entwickelten Wirtschaftsnationen passiert, zum Symbol vom Ende des | |
Turbokapitalismus? | |
Ja, meine Kollegen in Südkorea, Japan und China sprechen sprechen von einer | |
"compressed modernization", die einen Risikokapitalismus hervorgebracht | |
hat. In Japan lässt sich zugleich zeigen, wie wichtig es ist, über | |
Alternativen zu verfügen. Es hat das Land auch deswegen so hart erwischt, | |
weil es intellektuell gar nicht darauf vorbereitet war. Es gibt keine | |
nennenswerte Anti-Atomkraft-Bewegung. Das Land hat sich auf den Ausbau der | |
Kernenergie verlassen, obwohl Hiroshima zu den Albträumen des japanischen | |
Nationalbewusstseins gehört. Aber diese Verbindungen wurden nie | |
hergestellt, weil sie durch einen Fortschrittsglauben gegeneinander | |
isoliert wurden. Diese ganzen Konstruktionen stehen jetzt zur Disposition. | |
Ich könnte mir vorstellen, dass auch in Japan in Zukunft die Weichen auf | |
alternative Energien umgestellt werden. | |
Markiert Fukushima auch eine Wende der Menschheit in Bezug auf die | |
Kernenergie? | |
Die Explosion der Reaktorblöcke konnte in Wohnzimmern weltweit, und zwar in | |
Zeitlupe, verfolgt werden. Das gab es bislang nicht. Die jetzige | |
Katastrophe ist damit zu einem kosmopolitischen Ereignis geworden, an dem | |
die Menschen exemplarisch die Versprechen der Kernindustrie und ihrer | |
Politiker im Moment ihres Zusammenbruchs beobachten konnten. Wenn es | |
gelingt, dieses Momentum zu nutzen und in Politik umzusetzen, dann könnte | |
dieses Ereignis tatsächlich eine Wende markieren. | |
Das mediale und öffentliche Interesse dreht sich vor allem um die atomare | |
Katastrophe. Man könnte den Eindruck gewinnen, die tatsächlichen Toten des | |
Tsunami interessieren kaum. Ist den Menschen die Empathie verloren | |
gegangen? | |
Nein, das würde ich so nicht sehen. Auch die Bilder des Tsunami sind bei | |
den Menschen präsent. Wenn man sich aber nur darauf bezieht, dass die | |
Reaktorkatastrophe vorläufig vermutlich noch keine Toten zur Folge hatte, | |
verkennt man die Dynamik der atomaren Gefahr. Bei der Kernenergie haben wir | |
es mit einer Kollektivgefahr zu tun, die keinen ausschließt. Die | |
Entscheidungsmöglichkeiten der Einzelnen sind fast vollständig aufgehoben. | |
Die Menschen erleben einen anthropologischen Schock, weil sie sich als | |
Bürger in ihrem ureigenen Urteilsvermögen gefährdet sehen. Sie werden einer | |
Gefahr ausgesetzt, die in radikalem Sinne ihren Wunsch nach | |
Selbstbestimmung und eigener Urteilskraft infrage stellt. Das hat eine | |
andere kulturelle und politische Dynamik. Die Botschaft der Fernsehbilder | |
lautet: Das Gewebe unserer materiellen Abhängigkeiten und moralischen | |
Verpflichtungen könnte zerreißen und das empfindliche Funktionssystem der | |
Weltrisikogesellschaft zusammenbrechen. | |
Eine freiheitliche Gesellschaft birgt immer Risiken. Besteht nach der | |
Katastrophe die Gefahr, dass, um Sicherheit zu suggerieren, Freiheitsrechte | |
eingeschränkt werden? | |
Ja, denn die Risiken haben ja ein besonderes Merkmal: Sie sagen nur aus, | |
was man nicht tun soll, sie sagen aber nicht aus, was man tun soll. Die | |
Risikogesellschaft zwingt die Menschen dazu, sich in einer grundlegenden | |
Weise daran zu gewöhnen, dass wir es immer mit Risiken zu tun haben, die | |
wir nicht beseitigen können. Risiken sind auch nicht nur etwas Negatives, | |
sondern können auch Überraschungen bedeuten, die neue Entwicklungen | |
zulassen. | |
Die atomare Katastrophe als Chance? | |
Die Katastrophe in Japan ermöglicht es, weltweit neu über Kernenergie | |
nachzudenken. Sie erzwingt sogar diese Möglichkeit und eröffnet | |
Handlungschancen für eine alternative Energiepolitik. Insofern bieten | |
Risiken auch Perspektiven für neue Wege in eine andere Moderne. | |
25 Jahre nach Tschernobyl sollen Sie in einer Ethik-Kommission die Risiken | |
der Atomkraft bewerten. Muss der einzige Rat nicht lauten: "Sofort | |
aussteigen aus der Kernenergie"? | |
Wer in diesem Land aufmerksam gelebt hat, wird an diese Diskussion über | |
Kernenergie nicht mehr jungfräulich herangehen können. Auch die Argumente | |
liegen auf dem Tisch. Ich erwarte von dieser Kommission keine neuen | |
Einsichten. Was sie leisten kann, ist, die verfügbaren Argumente so zu | |
präsentieren, dass ein Ausstieg aus der Kernenergie mit einem größeren | |
Konsens über die Parteien hinweg möglich erscheint. In Deutschland ist das | |
ein relativ leichtes Spiel. Ganz anders in allen anderen Ländern. Da die | |
Gefahren der Kernenergie keine Grenzen kennen, sollte der Ehrgeiz der | |
Kommission sein, dass ihre Ergebnisse auch internationaler Kritik | |
standhalten. | |
Hatten Sie nicht die Befürchtung, für ein Gremium berufen zu sein, das nur | |
vorgeschoben wird, um Zeit zu gewinnen? | |
Das ist eine Binsenweisheit, dass eine Kommission immer dann erfunden wird, | |
wenn man die Sachen auf die lange Bank schieben will. Gleichzeitig ist es | |
aber auch so, dass niemand das Votum einer Kommission vorwegnehmen kann. | |
Die Vorstellung, dass Frau Merkel das könnte, halte ich für abwegig. Wir | |
leben in Europa, die europäische Öffentlichkeit ist der Adressat. | |
1 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
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