# taz.de -- Linke und Migranten zu Gauck: Bürger gegen Joachim Gauck | |
> Alle lieben diesen Mann. Wirklich alle? Linke Aktivisten und | |
> Migrantenvertreter stimmen nicht in den Jubel über den | |
> Präsidentschaftskandidaten Gauck ein. | |
Bild: Am Freitag stand dieser Demonstrant noch allein vor dem Schloss Bellevue. | |
BERLIN taz | Nein, er ist nicht der Kandidat aller Herzen. Zwar freuen sich | |
etliche frühere DDR-Bürgerrechtler über die Aussicht ihres Mitstreiters auf | |
das höchste Amt im Staate. Und die Spitzen von CDU, FDP, SPD und Grünen | |
erwarten ein geschlossenes Abstimmungsverhalten, wenn es darum geht, | |
Joachim Gauck zu wählen. Doch in der linken Öffentlichkeit, an der grünen | |
Basis und unter Migranten regt sich Kritik. | |
Den Unmut der Grünen-Basis formuliert Hans-Christian Ströbele. 2010 habe er | |
Gauck noch gewählt, "danach habe ich das bedauert", gibt er zu. Gauck fehle | |
"die Empathie für die soziale Bewegung. Ich bin nicht überzeugt von dem | |
Kandidaten." Und Sina Doughan von der Grünen Jugend findet: "Wir erwarten, | |
dass er Politik für alle Menschen macht - statt das Engagement von | |
Menschen, die in der Occupy-Bewegung auf die Straße gehen, ins Lächerliche | |
zu ziehen." | |
Auch Kirchenkollegen wie der Theologe und Ex-DDR-Bürgerrechtler Friedrich | |
Schorlemmer sehen Gauck kritisch: "Er singt ein Loblied auf die Freiheit. | |
Ich vermisse das Loblied auf die Gerechtigkeit", so Schorlemmer zur taz. | |
"Denn es gibt zu viele, die sich Freiheit nicht leisten können." Er | |
kritisiert, dass sich Gauck "zur Erlöserfigur stilisieren" lasse. "Unser | |
Herr Jesus Christus erscheint gegen ihn klein", ätzt Schorlemmer - und gibt | |
zu, ihm sei "Klaus Töpfer, der einen weiteren Horizont hat, in diesem Amt | |
viel lieber gewesen". | |
Die Schriftstellerin Daniela Dahn zweifelt: "Gauck ist kein Versöhner, er | |
polemisiert und klagt an. So hat er auch seine Behörde geführt", erinnert | |
sie sich. "Er war nicht objektiv und hat unterstützt, was in sein | |
konservatives, teilweise reaktionäres Weltbild passte", so ihr Urteil. | |
Anetta Kahane von der Amadeu-Antonio-Stiftung fürchtet gar, mit Gaucks | |
Betonung des Patriotismus und seinem Totalitarismusbegriff, der DDR-Unrecht | |
und Drittes Reich gleichsetze, "ins Fahrwasser einer Relativierung der | |
NS-Vergangenheit zu geraten". | |
Dieter Graumann, der dem Zentralrat der Juden vorsitzt, ist da | |
zuversichtlich: Gauck sei nicht immer bequem, aber er werde "frischen Wind | |
in die Politik bringen", ist er überzeugt. | |
## "Romantisches Bild vom Kapitalismus" | |
Unter Migranten ist der Kandidat besonders umstritten. Mit seinen | |
Äußerungen über Thilo Sarrazins Buch habe er "Irritationen ausgelöst", | |
räumt Kenan Kolat von der Türkischen Gemeinde in Deutschland ein. "Wir | |
hoffen aber, dass er jetzt Zeichen setzt, dass er der Präsident aller | |
Menschen in Deutschland werden will", sagt Kolat. | |
"Sein romantisches Bild vom Kapitalismus ist stark geprägt von seinen | |
Erfahrungen in der DDR", glaubt die Schriftstellerin Hatice Akyün. Sie | |
stichelt: "Mein Vater schiene mir besser geeignet, weil er das Land besser | |
kennt. Er lebt schon seit 50 Jahren in der Bundesrepublik - und damit 30 | |
Jahre länger als Gauck." | |
Ähnlich ist das Stimmungsbild bei sozialen Bewegungen. Detlev von Larcher, | |
der bis 2011 im Attac-Koordinierungskreis aktiv war, ist alles andere als | |
begeistert von Gauck: Er fürchtet, "dass sein Freiheitsbegriff auch die | |
Freiheit der Finanzmärkte meint, die uns ins Desaster geführt hat", so von | |
Larcher. "Damit wäre er der falsche Präsident für diese Zeit." | |
Auch bei der Occupy-Bewegung herrscht Skepsis. "Angesichts seiner | |
Kommentare sind unsere Erwartungen an Gauck sehr niedrig", sagte Erik Buhn, | |
der das Occupy-Camp in Frankfurt mitorganisiert hat. "Wir haben in Politik | |
und Wirtschaft genügend Menschen, die uns täglich zeigen, wie sehr sie | |
unsere Armut ankotzt", findet Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum: | |
"Einen arroganten Oberlehrer brauchen wir nicht noch als | |
Bundespräsidenten." | |
Auch in der Antiatombewegung hat sich Gauck wenig Freunde gemacht. Wolfgang | |
Ehmke, Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, sieht in Gaucks | |
Distanz zu den Antiatomprotesten einen "interessanten Widerspruch zu seiner | |
angeblichen Bürgernähe und Herkunft aus dem Bürgerprotest". | |
Der Schriftsteller Wolfgang Schorlau, prominenter Gegner von Stuttgart 21, | |
findet: "Wer sich so abfällig über die neuen Bürgerbewegungen äußert, der | |
steht zu sehr in Gefahr, der Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft zu | |
mehr Bürgerbeteiligung im Wege zu stehen." Und die ebenfalls als | |
S-21-Gegnerin bekannte Kabarettistin Christine Prayon frotzelt: "Gauck | |
findet Hartz IV prima, Occupy albern, Sarrazin mutig und die Entscheidung, | |
aus der Atomkraft auszusteigen, gefühlsduselig. Was lernen wir daraus? Aus | |
der Kernkraft auszusteigen schützt leider nicht vorm Super-Gauck." | |
Mitarbeit: J. Hagmann, M. Kreutzfeldt, N. Michel, S. Reinecke, U. Schulte | |
21 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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Joachim Gauck | |
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