# taz.de -- Jürgen Trittin über Gauck: "Politik des Zuhörens" | |
> Der Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sieht Gauck als jemanden, der | |
> auch Dinge sagt, die seinen Wählern nicht gefallen. Und wertet dessen | |
> Nominierung als Erfolg der Grünen. | |
Bild: Shiny happy people: Gauck und Trittin 2010. | |
taz: Herr Trittin, welche Rolle spielt für Sie die politische Verortung | |
eines Bundespräsidenten? | |
Jürgen Trittin: Eine große Rolle. Wir haben uns deswegen bereits vor 20 | |
Monaten für einen wertegeleiteten Konservativen entschieden, der in seinem | |
politischen Leben immer für Freiheit und Verantwortung gestanden hat. Sein | |
Freiheitsbegriff ist ein anderer als der der Neoliberalen. | |
Aber er ist auch ein Kandidat, der die Auseinandersetzungen um S21 als eine | |
Protestkultur bezeichnet, die immer dann aufflammt, wenn es um den eigenen | |
Vorgarten geht. Er hat die Occupy-Bewegung altväterlich als läppisch und | |
lächerlich diskreditiert. Die Montagsdemos gegen Hartz IV nannte er | |
töricht, die Begrenzung der Laufzeit von AKWs gefühlsduselig. | |
Wenn ich mit Letzterem anfangen darf: Diese Debatte haben wir schon im | |
Herbst 2010 sehr ausführlich geführt, bevor er von uns allen einmütig als | |
Kandidat unterstützt wurde. Joachim Gauck hat sich als jemand erwiesen, der | |
seine Position klar vertritt, der aber auch bereit ist, seine Position | |
einem demokratischen Diskurs zu stellen und sie mit Argumenten zu | |
verteidigen. Das ist das Stück demokratischer Kultur, das wir als "Politik | |
des Zuhörens und Gehörtwerdens" bezeichnen und das diese Gesellschaft | |
dringend nötig hat. Wir wollen einen Präsidenten, der demokratische | |
Diskurse anstößt. Da wird er auch das ein oder andere sagen, das auch denen | |
nicht gefällt, die ihn gewählt haben. | |
Gauck also als Enfant terrible und deswegen kompatibel mit den Grünen? | |
Ich habe nicht von Enfant terrible gesprochen, sondern von jemandem, der | |
mit großem Ernst Positionen vertritt, die er im Dialog zu verteidigen, aber | |
auch zu verändern bereit ist. | |
Sie haben gesagt, dass er inhaltlich in erster Linie für Freiheit steht, | |
ein Terminus, der zunächst mit der FDP in Verbindung gebracht wird, nicht | |
mit den Grünen. | |
Die FDP hat einen Begriff von Freiheit, der in der Abwesenheit von | |
Gesellschaft und sozialer Verantwortung besteht. Gauck definiert Freiheit | |
als Freiheit zu Verantwortung. Das trifft sich mit unseren Vorstellungen | |
von Freiheit in der Verantwortung. Für uns Grüne gehört dazu immer auch die | |
Verantwortung für kommende Generationen. Außerdem haben weite Teile der | |
Bürgerbewegung, die die DDR zu Fall brachte und für die auch Joachim Gauck | |
steht, ihre Heimat bei Bündnis 90/Die Grünen gefunden. | |
Sie werten das breite Grinsen von Sigmar Gabriel bei der Vorstellung des | |
Kandidaten am Sonntagabend also nicht dahin gehend, dass er darin die | |
Vorzeichen einer großen Koalition sieht, in der die Grünen das Nachsehen | |
haben werden? | |
Ich erlaube mir den Hinweis, dass ich Sigmar Gabriel seinerzeit Joachim | |
Gauck vorgeschlagen habe - nicht andersherum. Ich habe das aus voller | |
Überzeugung getan. Joachim Gauck ist bestimmt kein Kandidat der großen | |
Koalition, da wären mir andere eingefallen. | |
Gauck war 2010 also nicht, wie von höchster Stelle kolportiert, die Idee | |
des Springer Verlags? | |
Ich gelte ja nicht als besonders Springer-kompatibel … | |
… um so interessanter, dass Sie sich mit Friede Springer um den | |
Urheberschutz streiten müssen. | |
Muss ich gar nicht. Man kann sogar in den Protokollen der Bundesversammlung | |
nachlesen, dass Joachim Gauck unser Vorschlag war. Friede Springer war | |
damals Wahlfrau für die Union. Fragen Sie sie doch mal, ob sie Wulff oder | |
Gauck gewählt hat. | |
Ist es kein Armutszeugnis, dass Ihnen auch in diesem Jahr keine Frau | |
eingefallen ist? | |
Wer sagt Ihnen denn, dass uns keine Frau eingefallen ist? Katrin | |
Göring-Eckardt zum Beispiel wäre eine exzellente Kandidatin gewesen, die | |
wir Grüne vorgeschlagen hätten, wenn es eine realistische Chance auf eine | |
Mehrheit für sie gegeben hätte. | |
Sie übernehmen also, wie von Angela Merkel intendiert, die volle | |
Verantwortung für einen Bundespräsidenten Gauck? | |
Wir haben Frau Merkel nach der Abschaffung der Wehrpflicht, nach dem | |
Atomausstieg auch in der Frage des Bundespräsidenten unsere Position | |
aufgezwungen. Nun ist es also im dritten Fall offensichtlich, dass | |
Schwarz-Gelb nicht mehr die Macht hat, seine Politik gegen uns | |
durchzusetzen. Das halte ich für einen großen politischen Erfolg von | |
Bündnis 90/Die Grünen. | |
20 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Ines Pohl | |
## TAGS | |
Joachim Gauck | |
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