# taz.de -- Krimi über den NSU: Die literarische Ermittlung | |
> Im Bestseller „Die schützende Hand“ verpackt Wolfgang Schorlau seine | |
> aufklärenden Ermittlungen zum NSU in einen konventionellen Krimi. | |
Bild: Wolfgang Schorlaus „Die schützende Hand“ hat sich binnen weniger Woc… | |
„Fehlt nur noch der kahlköpfige Kellner“, sage ich. | |
Dieser Kellner ist eine der wiederkehrenden Figuren in Wolfgang Schorlaus | |
Krimis und pflegt dem Detektiv Dengler stumm seinen doppelten Espresso zu | |
bringen. Wir hatten uns in der Kulisse von Schorlaus Dengler-Romanen | |
getroffen. | |
Das Bohnen- und dass angrenzende Heusteigviertel sind gleichzeitig | |
Stuttgarts kleine und große Welt. Reiche und Arme. Huren und Werber. Wo die | |
Porsches schön den Feinstaub verteilen und auch das Grüne Milieu zu Hause | |
ist. Wir gehen zu einem Platz, an dem der desillusionierte | |
Ex-BKA-Zielfahnder Dengler und seine Freundin Olga auch ab und zu essen. Es | |
bedient eine italienischstämmige Stuttgarterin. | |
„Der kahlköpfige Kellner arbeitet ein paar Häuser weiter“, sagt Schorlau | |
unironisch. Und bestellt einen einfachen Espresso. | |
Schorlau, 64, hat den Überraschungsbestseller des Winters geschrieben. „Die | |
schützende Hand“, erschienen bei kiwi, hat sich binnen weniger Wochen | |
150.000-mal verkauft. Mehrere Wochen auf Platz 1 der | |
Spiegel-Paperback-Liste. Die Dengler-Krimis sind eingeführt und finden | |
immer ihr Publikum. | |
## Immer vor vollem Saal | |
Aber der achte Band, in dem Dengler den gewaltsamen Tod der beiden | |
rechtsextremen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt untersucht, | |
hat eine andere Dimension. Vor allem, was die Geschwindigkeit angeht. Wo | |
immer er hinkommt, sind die Säle nicht groß genug. Woher kommt dieser | |
Erfolg, welches Bedürfnis steckt dahinter? | |
Der „Kriminalschriftsteller“, wie ihn kontext nennt, ist erkältet, er trä… | |
Schal. Haare mittellang, Kleidung informell und in der Regel schwarz wie | |
die Hornbrille: Stilistisch-habituell ist das die erste | |
Post-68er-Generation in der späteren Lebensphase. Er war ein | |
Nichtprivilegierter. Mit acht wurde er Halbwaise, als er elf war, gab ihn | |
die Mutter in ein Freiburger Waisenhaus. Durch 1968 wurde er tatsächlich in | |
der Lehrlingsbewegung politisch aktiv, machte doch noch Abi und fing an, | |
Theorie zu lesen. Marx, Lenin, Freud, Reich. | |
In den 70ern arbeitete er im maoistisch-illusionistischen KBW am Sturz des | |
Kapitalismus, der aus KBW-Sicht unmittelbar bevorstand. Diese Phase bildete | |
ihn. „Gründlich, aber einseitig.“ Er wurde dann Programmierer. In den 90ern | |
hatte er ein Softwareunternehmen. 2001 stieg er aus und wurde | |
Schriftsteller. Einfach so. Der Rest ist Krimigeschichte. Vergangenen April | |
lief Dengler erstmals als ZDF-Verfilmung – mit Ronald Zehrfeld und Birgit | |
Minichmayr in den Hauptrollen. Erreichte eine Top-Einschaltquote von 5,8 | |
Millionen. Die zweite Folge ist abgedreht. | |
## Der maximale Bum | |
Es geht bei Schorlau nie um den abartig bösen Einzeltäter wie in vielen | |
skandinavischen Krimis. | |
Es geht nicht um Überwindung des System, es geht um Beschreibung abartiger | |
Auswüchse dieses Systems. Massentierhaltung, Pharmaindustrie, | |
Privatisierung von Wasser. Das Attentat auf dem Oktoberfest von 1980 (“Das | |
München-Komplott“) thematisierte auch schon die Frage nach der Verbindung | |
zwischen Staat und Rechtsterrorismus. Und mittendrin Schorlaus Held | |
Dengler, eine Polizistenfigur, die nie links redet, aber immer links | |
handelt. Im reformistischen Sinne. | |
Schorlau selbst ist auch Reformist, Anhänger einer offenen | |
Bürgergesellschaft. Schätzt den neuen Stil, der durch den | |
Grünen-Ministerpräsidenten Kretschmann im Land eingezogen ist. Kritisiert | |
aber dessen „überraschende Verbeugung vor dem Konservatismus“ und eine | |
Abkehr von denen, die ihn gewählt hatten. Wird ihn im März wohl trotzdem | |
wiederwählen. | |
Der Kriminalroman als Medium politischer Aufklärung hat eine Tradition, | |
aber die klassische Kritik lehnt Werke mit politischem Anliegen gern ab mit | |
dem Befund, es sei nach literarischen Kriterien kein „gutes Buch“. Stimmt | |
ja auch oft, etwa bei Stieg Larsson, der es nicht anders konnte. | |
An Dave Eggers’ „Circle“ wurde auch herumgemäkelt, aber dessen Kunst | |
besteht darin, bei diesem zukunftsentscheidenden Thema den maximalen Bum | |
ausgelöst zu haben. Auch bei Schorlau wird vereinzelt der „hölzerne“ Stil | |
bemängelt. Und das „Meinungsmedium“ Freitag empört sich über eine | |
stereotypisierte Frauendarstellung. | |
## Zur Bildung der politischen Meinung | |
Literatur mit politischem Anliegen ist aber auch ein komplexes Feld. Sparen | |
wir uns hier mal die Frage, was Kunst kann, darf, soll. Konzentrieren wir | |
uns auf die Frage, woher der gesteigerte Bedarf an „literarischer | |
Ermittlung“ kommt, wie Schorlau sein Genre nennt. | |
Die These lautet: Er speist sich aus der gleichen Quelle wie der Erfolg der | |
politischen Satire als Fernsehformat in den USA (Jon Stewart, Stephen | |
Colbert) und inzwischen auch in Deutschland (heute show, Böhmermann, | |
Pelzig, Die Anstalt). Es ist falsch, zu sagen, Politiksatire sei in der | |
Tristesse des politischen Journalismus inzwischen die wahre politische | |
Aufklärung oder Information. Es ist aber richtig, dass bestimmte Gruppen | |
sie offenbar, über ihr Lachbedürfnis hinaus, dazu nutzen, sich eine | |
politische Meinung zu bilden. | |
Interessanterweise gehen die satirischen Nachrichten verstärkt dazu über, | |
nicht nur zu parodieren, sondern zu recherchieren und zu erklären. In | |
manchen Fällen recherchieren sie tatsächlich tiefer oder erklären besser | |
als eine konventionelle Nachrichtenredaktion. Das schätzen die Zuschauer. | |
Vor allem finden sie die Gags und Punchlines lustig, im Gegensatz zu den | |
Punchlines von Tagesthemen und Zeitungsleitartikeln. Es ist ein Deal, den | |
man in US-amerikanischen Supermärkten findet: Buy one, get one free. Kauf | |
das eine, und du kriegst das zweite umsonst dazu. | |
## Der Weltschmerzermittler | |
Buy one, get one free: Das könnte auch das Prinzip sein, das Schorlaus | |
großen Erfolg erklärt. Es gibt auch jenseits der Nische einen Bedarf an | |
Aufklärung, aber bitte nicht mühsam und nicht in den alten Schläuchen der | |
Problemberichterstattung, also Opferporträt, Anklagekommentar, | |
Dokumentarfilm, kompliziert oder empört geschriebenes Sachbuch. Schorlau | |
verpackt seine aufklärenden Ermittlungen in einen konventionellen Krimi mit | |
einem Weltschmerzermittler, seiner super aussehenden Freundin und dem | |
linksgrünen Lebensstilambiente emanzipierter Kulinarik. | |
Aber es kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu. „Die Leute wollen eine | |
zusammenhängende, sinnhafte, alternative Erzählung“, sagt Schorlau. Das ist | |
es, was er aus seinen Lesungen mitnimmt. | |
Es müsse nicht die einzig richtige sein, aber es ist für sie die bisher | |
erste sinnhafte. | |
Wenn man nach der Lektüre der „Schützenden Hand“ mal ein bisschen in Tage… | |
und Wochenmedien rumliest, dann merkt man erst, wie wenig das bisher | |
gelungen ist und wie sehr die Berichterstattung über den NSU vom | |
offiziellen Spin geprägt ist. | |
Kann es sein, dass auch Qualitätsmedien so getrieben und kurzatmig sind, | |
dass sie zu wenig Kraft in Geschichten investieren, die grundlegend für die | |
deutsche Politik und Gesellschaft sind? Schorlau und sein Rechercheur | |
arbeiten bis zu zwei Jahre an den Fällen, besorgen sich Polizeiakten, | |
probieren „tausend Sachen durch“, um nachvollziehen zu können, was 2011 in | |
dem Wohnmobil passierte, aus dem die Neonazis Mundlos und Böhnhardt tot | |
herausgeholt wurden. | |
## „Wie viel Staat ist im NSU?“ | |
Laut Aktenlage hat Mundlos dort erst Böhnhardt, dann sich den Schädel | |
weggeschossen, aber nach dem Checken endloser Asservatenlisten fehlen | |
Schorlau zwei Kilo Hirn, die irgendwo im Wohnwagen hätten kleben müssen. | |
Woraus folgt: So wie dargestellt kann es nicht passiert sein. | |
Die Süddeutsche sagt, er verkaufe „mit billigen Mitteln eine | |
Lieblingslegende der Verschwörungsszene“. Schorlau sagt, Polizisten hätten | |
ihm versichert, dass es die rechtsextreme Szene in Thüringen ohne die | |
Aufbauarbeit des Verfassungsschutzes nie so gegeben hätte. Weshalb sich die | |
„Schützende Hand“ des Titels auf den Staat und seine unkontrollierten | |
Dienste bezieht und die Frage für Schorlau ist: „Wie viel Staat ist im | |
NSU?“ | |
Damit sind wir beim dritten Faktor von Schorlaus Erfolg. „Dieser Hybrid | |
zwischen Realpolitik als Thema und Krimi als literarischer Form erreicht | |
noch mal eine neue Qualität, weil das Ereignis noch nicht abgeschlossen ist | |
und in der Gegenwart eine überragende Bedeutung für die Leute hat“, sagt | |
Schorlaus Verleger Helge Malchow am Telefon. Der Krimi könne als Kommentar | |
zum laufenden Prozess gegen Beate Zschäpe gelesen werden. | |
Es war Schorlaus härteste Arbeit. Je mehr er fürchtete, einem | |
Staatsverbrechen auf der Spur zu sein, desto intensiver forschte er weiter. | |
Am Ende musste er sich losreißen und in eine Schreibhütte fliehen, um | |
überhaupt noch fertig zu werden. So erklärt es sich, dass die fiktiven | |
Figuren und Stränge deutlicher als sonst hinter den Versuch zurücktreten, | |
deutsche Wirklichkeit zu erzählen. „Neuen Realismus“ nennt Schorlau das. | |
Das ist für ihn „das literarische Projekt“ überhaupt, und der Krimi ist | |
dafür prädestiniert. | |
Für seinen Verleger ist es offensichtlich, warum Schorlau trotz reduzierter | |
Unterhaltung ein Massenpublikum bewegt. „Der Fall ist uns so nahe“, meint | |
Helge Malchow, „dass er in seinem Glutkern noch strahlt.“ | |
9 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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