# taz.de -- Dokumentarfilm „Iraqi Odyssey“: Stammbaum mit System | |
> In „Iraqi Odyssey“ sucht der irakisch-schweizerische Filmemacher Samir | |
> seine über den Globus verstreute Familie auf. | |
Bild: „Iraqi Odyssey“: Souhir Jamal Aldin, die Halbschwester von Regisseur … | |
„Wir waren zu siebt“, hört man die Tante des Regisseurs am Anfang erzähle… | |
„drei Ärzte, ein Lehrer, ein Ingenieur und zwei Rechtsanwälte.“ Eine solc… | |
Berufsbilanz würde noch heute jedem Familienpatriarchen, egal wo und wann, | |
die Brust schwellen lassen. | |
Dass Tante Samira hier als jüngste Tochter einer irakischen Familie | |
spricht, deren Kindheit im Bagdad der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts | |
liegt, läuft dazu noch den gängigen Vorstellungen über den Nahen Osten | |
zuwider. Dabei ist die Berufskarriere seiner Onkel und Tanten nur eine von | |
vielen erstaunlichen Details der Familienhistorie des | |
irakisch-schweizerischen Filmemachers Samir, der nach „Forget Baghdad“, | |
seiner Doku von 2002 über irakische Juden in Israel, in „Iraqi Odyssey“ nun | |
erstmals ganz autobiografisch vorgeht. | |
Sei es die Tatsache, dass die drei Töchter seines Großvaters genauso | |
studieren durften wie die vier Söhne, dass sich viele von ihnen einst zur | |
Kommunistischen Partei bekannten oder dass allein drei der Söhne | |
Europäerinnen heirateten: Samir hätte genug Gründe und Gelegenheiten, sein | |
Familienporträt mit dem Aufhänger „Seht her, wie toll und ungewöhnlich wir | |
sind“ zu beginnen. | |
Aber er wählt einen ganz anderen, melancholischeren Ausgangspunkt: die | |
eigentlich traurige Tatsache, dass seine Onkel, Tanten, Cousins und | |
Cousinen heute fast über den gesamten Globus verstreut sind. Und damit Teil | |
eines gar nicht seltenen Phänomens bilden – schließlich leben über vier | |
Millionen Iraker im Exil. | |
## Moskau, London, Buffalo | |
So ist es ein schöner, die Erwartungen durchbrechender Kontrast, dass ein | |
Film mit dem Titel „Iraqi Odyssey“ mit Bildern aus einem winterlichen | |
Moskau beginnt. Den Protagonisten dort, Samirs Cousin Jamal, lernt man als | |
Zuschauer allerdings erst um einiges später kennen, genauso wie die Gründe, | |
die ihn dorthin verschlagen haben. | |
Samir führt systematisch in seine Dokumentation ein: Zum Auftakt benennt er | |
mit Moskau, London, Buffalo (USA), Auckland (Neuseeland) und Lausanne | |
(Schweiz) die Orte, an denen er seine Hauptprotagonisten aufsucht. | |
Zusätzlich markiert er mit einer Fahrt über den Globus die Punkte, an denen | |
weitere seiner Cousins und Cousinen gelandet sind, ein in der Tat | |
weltumspannendes Netz. Und er gibt einen filmisch hübsch gelösten Überblick | |
zum Stammbaum seiner Familie, den man als Zuschauer gut später noch einmal | |
gebrauchen könnte. | |
Doch von Anfang an wird auch spürbar, dass es Samir nicht um persönliche | |
Geschichten, einzelne Anekdoten oder amüsantes Erinnern geht. „Iraqi | |
Odyssey“ nämlich bringt jenseits der Familienchronik etwas | |
Systematischeres, Strukturelleres zum Vorschein: einen ungewöhnlichen und | |
unerwarteten Blick auf die Kultur und die Geschichte eines Landes, dessen | |
Reichtum, Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Schlagzeilen aus drei | |
Kriegen und dem damit verbunden Namen Saddam Hussein nahezu komplett | |
verdrängt wurde. | |
## Keine Geschichtsdoku | |
Man kann „Iraqi Odyssey“ deshalb auch als Akt der Wiederaneignung | |
betrachten. In der Chronologie der historischen Ereignisse, die Regisseur | |
Samir als treibende Kraft seiner Familiengeschichte mit erzählt, wird dem | |
Diktator nicht mehr Platz als nötig eingeräumt. Für Schuldzuweisungen, | |
Anklagen oder ein Lamentieren übers böse Schicksal bleibt keine Zeit. | |
Dabei reichen selbst die 167 Minuten der Langfassung (der Film kommt aber | |
auch in einer kürzeren Version in die Kinos) nicht aus, um mehr als nur die | |
groben Umrisse anzugeben. Die allerdings sind faszinierend genug: wie die | |
Kinder des fortschrittlichen Großvaters im Widerstand gegen den von den | |
britischen Kolonialherren eingesetzten Monarchen nach links driften, wie | |
ihre Hoffnungen nach der erfolgten Revolution aber bald enttäuscht werden. | |
Wie die Machtergreifung der Baath-Partei eine erste Exilwelle auslöst, wie | |
gegen immer wieder gehegte Hoffnungen auf Demokratie und Reform die | |
Situation schlimmer und schlimmer wird, vom katastrophalen Iran-Irak-Krieg | |
über den verheerenden zweiten Golfkrieg bis zum Desaster der Invasion von | |
2003. | |
Samir ist allerdings kein Historiker und sein Film ist keine Geschichtsdoku | |
– weshalb er es sich leisten kann, die Widersprüchlichkeiten in den | |
Ereignissen einfach stehen zu lassen: die dubiose Rolle der Sowjetunion, | |
die schließlich die antikommunistische Baath-Partei unterstützte, die nicht | |
minder dubiose Taktik der USA, nach dem zweiten Golfkrieg Saddam Hussein an | |
der Macht zu belassen . . . Dinge, die für so manchen Bruch in den | |
Lebensentwürfen seiner Familienangehörigen verantwortlich waren. | |
Nun könnte man beklagen, dass Samir diesen und anderen Themen nicht weiter | |
nachgeht, dass er die Fortschrittlichkeit seiner Familie, zu der alle | |
möglichen Religionen gehören und in der die Frauen so emanzipiert sind, | |
nicht weiter hinterfragt oder erörtert. Aber das wäre höchst ungerecht, ist | |
das Interesse an solchen Fragen doch erst durch diesen Film und dem darin | |
so reich und großzügig ausgebreiteten Material aufs Neue geweckt worden. | |
14 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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