# taz.de -- Santiago de Chile: Das Gedächtnis kommt zurück | |
> Die Hauptstadt Santiago stellt sich der Vergangenheit. Die Historikerin | |
> Francisca Herrera Crisan führt Touristen zu den Orten der | |
> Pinochet-Diktatur | |
Bild: Das moderne Santiago. | |
Ein altes Gebäude in der Calle Londres, Hausnummer 38, eine schöne Fassade | |
mit Fensterläden aus massivem Holz. Wir sind im touristischen Stadtviertel | |
París-Londres. Auf dem Gehweg bleiben Passanten stehen, sie schauen auf | |
Metallplaketten im Kopfsteinpflaster, lesen Namen - Carlos Alberto Cuevas | |
Moya, 21 Jahre, Kommunistische Partei, Alejandro Arturo Parada González, 22 | |
Jahre, Sozialistische Partei. Es sind Stolpersteine. Sie sollen an die 96 | |
Menschen erinnern, die in den ersten Jahren der Pinochet-Diktatur hier in | |
der Calle Londres 38 festgehalten, gefoltert und ermordet wurden. Mitten in | |
der Altstadt von Santiago. | |
„Das Haus war bis zum Staatsstreich 1973 Sitz der Sozialistischen Partei | |
und danach wurde es von der Geheimpolizei als Haft- und Folterzentrum | |
genutzt“, sagt Francisca Herrera Crisan. Die Historikerin führt Touristen | |
auf den Spuren der Pinochet-Diktatur durch Santiago. Zu Orten wie „Londres | |
38“, die erst in den letzten Jahren zu offiziellen Erinnerungsorten | |
geworden sind. | |
„Noch vor drei Jahren gehörte dieses Haus einem seltsamen Institut mit dem | |
Namen OHiggins und hatte eine falsche Hausnummer“, sagt Herrera. Doch 2008 | |
wurde es vom Ministerium für Nationale Liegenschaften erworben und der | |
Vereinigung der Opfer übergeben, die es noch dieses Jahr für die | |
Öffentlichkeit zugänglich machen will - rund zwei Jahrzehnte nach dem | |
friedlichen Übergang zur Demokratie. „Es war in Chile lange Zeit wichtiger, | |
in die Zukunft zu schauen und Dinge zu vergessen, die Schmerzen | |
verursachen“, sagt Herrera. „Doch jetzt beschäftigen sich immer mehr Leute | |
damit, was diese Orte erzählen.“ | |
Es ist etwas in Bewegung gekommen in Chiles Hauptstadt. Nicht nur ist die | |
Luft reiner als noch vor ein paar Jahren, weil die Motoren der Stadtbusse | |
radikal modernisiert wurden, auch der Nebel der Vergangenheit hat sich | |
etwas gelichtet. Das Ministerium für Nationale Liegenschaften hat Ende 2008 | |
eine Route der Erinnerung in Santiago entworfen, einen gedruckten Führer | |
dazu veröffentlicht und vor kurzem auch einen Dokumentarfilm. | |
All dies soll ein öffentliches Bewusstsein für Orte zu schaffen, an denen | |
zu Diktaturzeiten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. | |
Aufzuarbeiten gibt es viel: Die Wahrheitskommissionen haben in ihren | |
Berichten rund 3.000 Fälle ermordeter und verschwundener Chilenen und mehr | |
als 28.000 Folteropfer dokumentiert, landesweit wurden 1.132 Haft- und | |
Folterzentren nachgewiesen. | |
Eine der 14 Stationen auf Santiagos Route der Erinnerung ist die | |
Bulnes-Brücke westlich des Zentrums, wo im Oktober 1973 vierzehn | |
Jugendliche hingerichtet wurden, mit Schüssen in den Rücken. Heute findet | |
man hier ein Mosaik aus Kacheln mit Porträts der Opfer. Ganz im Osten der | |
Stadt, in Peñalolen, kann man die berüchtigte Villa Grimaldi besuchen, die | |
in den achtziger Jahren abgerissen wurde, um Spuren von Mord und Folter zu | |
verwischen. Inzwischen ist an diesem Ort ein Friedenspark entstanden. Oder | |
das Chile-Stadion in der Nähe des Hauptbahnhofs, das nach dem Staatsstreich | |
als Gefangenenlager missbraucht wurde. Seit 2003 trägt es den Namen | |
Víctor-Jara-Stadion. Der politische Liedermacher hat hier ein letztes | |
Gedicht geschrieben, bevor er ermordet wurde. Im Film des Ministeriums | |
singt es Isabel Parra. | |
Wir gehen durch die Altstadt zum Präsidentenpalast La Moneda. Es ist das | |
politische Zentrum Santiagos - und der symbolischste Ort für den | |
Staatsstreich vom 11. September 1973. Es war ein Dienstag, gegen Mittag | |
kamen Flugzeuge aus dem Norden und bombardierten den Präsidentenpalast. Der | |
drei Jahre zuvor gewählte Präsident Salvador Allende Gossens kam noch am | |
selben Tag ums Leben, er soll sich erschossen haben, doch der Selbstmord | |
ist umstritten. General Augusto Pinochet riss als Vorsitzender der | |
Militärjunta die Macht an sich. | |
Schräg vor dem Präsidentenpalast steht heute eine Statue Salvador Allendes. | |
„Es hat nach dem Übergang zur Demokratie neun Jahre gedauert, bis sie diese | |
Statue aufgestellt haben, viel zu lange“, sagt Herrera. „Die chilenische | |
Gesellschaft ist noch immer gespalten, wenn es um die Vergangenheit geht, | |
erst vor kurzem habe ich hier eine Frau gesehen, die im Vorbeigehen | |
ausgespuckt hat.“ | |
Hundert Meter weiter, in der Calle Morande, bleiben wir vor einer Seitentür | |
des Präsidentenpalasts stehen, Hausnummer 80. „Durch diese Tür ist Salvador | |
Allende jeden Tag hineingegangen, hier haben die Militärs seinen toten | |
Köper herausgetragen“, erzählt Herrera. Danach haben sie den Palast ohne | |
Allendes Tür wieder aufgebaut, erst 2003 wurde sie unter Präsident Ricardo | |
Lagos wieder geöffnet, zum 30. Jahrestag des Putsches. | |
Auch Michelle Bachelet, die Nachfolgerin von Ricardo Lagos, die am 11. März | |
ihr Amt an den rechtskonservativen Sebastián Piñera übergeben musste, | |
setzte sich aktiv für die Aufarbeitung der Vergangenheit ein. Sie war unter | |
Pinochet selber gefoltert worden und ging ins Exil in die DDR. Vor zwei | |
Jahren eröffnete Bachelet den restaurierten Salón Blanco im | |
Präsidentenpalast, den „weißen Salon“, das Arbeitszimmer Allendes, in dem | |
er regierte - und in dem er starb. | |
Und sie setzte sich für das Museum der Erinnerung und der Menschenrechte | |
ein, das im Januar eröffnet wurde. Das Museum ist ein spektakulärer Neubau, | |
ein grüner Quader, gefüllt mit mehr als 40.000 Ausstellungsstücken und | |
Dokumenten. Stundenlang kann man durch die Ausstellung gehen und die | |
Zeugnisse der Geschichte auf sich wirken lassen - vom Militärputsch bis zur | |
Volksabstimmung 1988, die Chile schließlich auf friedlichem Wege zurück zur | |
Demokratie führte. „Wir wollen mit der Ausstellung zeigen, was in unserem | |
Land passiert ist, denn vieles ist noch unbekannt“, sagt Museumsdirektorin | |
Romy Schmidt. | |
Der Andrang im Museo de la memoria y los Derechos Humanos war von Anfang an | |
überwältigend, in den ersten sechs Wochen kamen gut 50.000 Besucher. Doch | |
mit dem verheerenden Erdbeben in Chile Ende Februar wurden große Teile der | |
Ausstellung zerstört, das Gebäude musste für Besucher geschlossen werden. | |
Schmidt hofft auf eine Wiedereröffnung zum August. | |
Wir steigen in die Metro und fahren zum Generalfriedhof im Stadtteil | |
Recoleta. Die Geheimpolizei hat im sogenannten Patio 29 Körper von | |
Folteropfern illegal verscharrt, hier befinden sich die Gräber von Salvador | |
Allende und Víctor Jara. Erst im Dezember haben tausende Chilenen die | |
Überreste des Liedermachers begleitet, die exhumiert worden waren, um die | |
näheren Umstände seines Todes zu untersuchen - laut Autopsie-Bericht waren | |
es 44 Schüsse in Kopf, Brust, Arme und Beine. Am Mahnmal der Opfer der | |
Diktatur legt eine Frau Blumen nieder, sie weint. Vor ihr in Stein | |
gemeißelt eine lange Liste mit Namen, Angehörige haben Fotos mitgebracht. | |
„Es ist für viele Leute ein sehr wichtiger Ort, der ihren Angehörigen einen | |
Namen gibt“, sagt Herrera. | |
Am Mausoleum Salvador Allendes liegen frische Blumen. Es ist angelegt wie | |
ein Podium, weiße Stelen ragen in den Himmel, auf einem Steinpult ist ein | |
Auszug aus Allendes letzter Rede vom Morgen des 11. September 1973 | |
eingraviert: „Arbeiter meiner Heimat, ich glaube an Chile und seine | |
Zukunft. Andere werden diesen grauen Moment überwinden.“ | |
Wir verlassen den Friedhof durch den Haupteingang im Süden. Der Rundgang | |
endet bei einem großen Mausoleum, das dem Juristen Jaime Guzmán Errázuriz | |
gewidmet ist, ein enger Vertrauter von Augusto Pinochet, der die | |
chilenische Verfassung von 1980 mitverfasst hat und 1991 ermordet wurde. | |
„Guzmán hat mit seiner Arbeit die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur | |
im Namen von Recht und Ordnung legitimiert“, sagt Herrera. „Wir sind in | |
Chile weit gekommen mit der Aufarbeitung der Vergangenheit, aber dieser Ort | |
zeigt, dass noch immer um Deutungen gekämpft wird.“ Das Mausoleum wurde | |
2007 eingeweiht, es liegen immer frische Blumen davor. | |
„Wir sind in Chile weit gekommen mit der Aufarbeitung"“Aber es wird noch | |
immer um Deutungen gekämpf | |
24 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Mirco Lomoth | |
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