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# taz.de -- Urteil zu Leistungen für Asylbewerber: Endlich Existenzminimum
> Die Karlsruher Verfassungsrichter urteilen gegen eine 19 Jahre alte
> Regelung. Nun sollen Flüchtlinge endlich eine Grundsicherung in
> angemessener Höhe erhalten.
Bild: Ein Wohncontainer auf dem Gelände eines Asylbewerberheims in Nürnberg.
KARLSRUHE taz | Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) hatte keine
Lust, sich das anzuhören. Die zuständige Ministerin war nicht zur
Urteilsverkündung nach Karlsruhe gekommen. Sie hat wohl geahnt, dass das
Bundesverfassungsgericht die Sozialleistungen für Flüchtlinge als „evident
unzureichend“ beanstanden wird. Doch nun muss sie das
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) nachbessern, denn Karlsruhe hat das
Gesetz in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt.
Das AsylbLG wurde 1993 beschlossen, als die Flüchtlingszahlen in
Deutschland am höchsten waren. Gegenüber Sozialhilfeempfängern wurden die
Sätze damals rund 15 Prozent abgesenkt, um angebliche „Lockwirkungen“ zu
verhindern. Statt 515 Mark bekamen Asylbewerber nur noch 440 Mark im Monat.
Asylbewerber würden meist eh nicht anerkannt, hieß es in der offiziellen
Begründung, und blieben deshalb nicht lange in Deutschland. Aus diesem
Grund müssten sie sich auch nicht sozial-kulturell integrieren und kämen
mit weniger Geld zurecht.
Seither wurden die Sätze des AsylbLG nicht erhöht, im Gesetz stehen immer
noch die DM-Werte. Umgerechnet erhält ein Asylbewerber heute 224 Euro im
Monat (soweit er überhaupt Geldleistungen erhält, siehe unten). Dabei stieg
in der Zwischenzeit der Preisindex um mehr als dreißig Prozent. Während der
Hartz-IV- und Sozialhilfesatz heute bei 374 Euro liegt, bekommen
Asylbewerber also nur knapp 60 Prozent davon.
## Anwendungsbereich erweitert
Gleichzeitig wurde im Lauf der Jahre der Anwendungsbereich des Gesetzes
immer mehr erweitert. Während die reduzierten Leistungen zunächst nur ein
Jahr lang gezahlt wurden, sind es heute schon vier Jahre. Galt das Gesetz
zunächst nur für Asylbewerber, so wurde es inzwischen auf zahlreiche andere
Flüchtlingsgruppen ausgeweitet, vor allem auf Geduldete, deren Asylantrag
bereits abgelehnt wurde.
Doch nun hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass dieses Gesetz
aus zwei Gründen dem Grundgesetz widerspricht. Zum einen seien die Sätze
heute eindeutig zu niedrig. Zum anderen seien sie auch nie nachvollziehbar
berechnet worden. Beides verstoße gegen das „Grundrecht auf ein
menschenwürdiges Existenzminimum“.
Für die Frage, was menschenwürdig sei, komme es auf die Verhältnisse in
Deutschland an, nicht in den Herkunftsländern der Flüchtlinge, stellten die
Richter klar. Auch andere europäische Staaten, mit teilweise niedrigeren
Leistungen, seien kein Maßstab. Damit wiesen die Richter ein Argument der
Bundesregierung zurück.
## „Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“
Zum Existenzminimum gehöre neben Leistungen zur Sicherung der physischen
Existenz, also Nahrung, Körperpflege und Kleidung, auch die „Möglichkeit
zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“ und ein „Mindestmaß an
Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Kosten
für Kinobesuche, ein Zeitungsabo, Telefon oder eine Bahnfahrkarte müssten
von Beginn an in die Berechnung des Existenzminimums einfließen.
Wie viel Euro ein Flüchtling braucht, um in Deutschland menschenwürdig
existieren zu können, ergebe sich allerdings nicht aus der Verfassung, so
die Richter. Das müsse der Gesetzgeber festlegen, und zwar „unverzüglich“.
Sicherheitshalber haben die Richter aber eine Übergangsregelung
beschlossen, die ab sofort gilt. Bei anhängigen Streitfällen gilt sie sogar
rückwirkend ab Januar 2011.
Danach bekommt ein alleinlebender Flüchtling nun 336 Euro pro Monat, also
knapp 90 Prozent des Hartz-IV-Satzes. Haushaltsangehörige bekommen 260
Euro. Soweit in einem Bundesland nur Gutscheine verteilt werden, muss deren
Wert entsprechend steigen. In Ländern und Kommunen, in denen es im
Wesentlichen Sachleistungen gibt, etwa Essenspakete, ändert sich daran
nichts. Doch das zusätzliche „Taschengeld“ von derzeit 40 Euro wird auf 130
Euro erhöht.
## Auch Abschaffung möglich
Diese Sätze gelten, bis der Bundestag das Asylbewerberleistungsgesetz neu
beschließt. Auch eine Abschaffung ist möglich, wird vom
Bundesverfassungsgericht aber nicht verlangt. Grundsätzlich sei es möglich,
ein eigenes Existenzminimum für Flüchtlinge zu berechnen, so die Richter.
Dieses dürfe aber nicht der Abschreckung dienen, betonte der
Senatsvorsitzende Ferdinand Kirchhof, „die Menschenwürde ist
migrationspolitisch nicht zu relativieren“.
Wenn der Gesetzgeber niedrigere Leistungen mit einem kurzen Aufenthalt in
Deutschland begründen wolle, müsse er den Zusammenhang genau belegen.
Außerdem dürfte dieser abgesenkte Satz auch nur für Gruppen gelten, die
wirklich nur kurzfristig in Deutschland bleiben. Das dürfte bei geduldeten
Flüchtlingen kaum der Fall sein.
Das Urteil wurde durch eine Richtervorlage des Landessozialgerichts von
Nordrhein-Westfalen ausgelöst. Bis dahin war das
Asylbewerberleistungsgesetz in Karlsruhe nie überprüft worden. Dass eine
Änderung erforderlich ist, war allerdings spätestens seit Anfang 2010
bekannt. Damals kippte Karlsruhe die Hartz-IV-Sätze, weil sie nicht
nachvollziehbar berechnet wurden. Auch die Bundesregierung sprach jetzt
davon, dass das AsylbLG wohl verfassungswidrig sei. Sie gründete einen
Arbeitskreis mit den Ländern, die aber höhere Sätze ablehnten, um Kosten
für die Kommunen zu vermeiden.
Von der Leyens Staatssekretärin Annette Niederfranke sagte gestern: „Wir
nehmen das Urteil an und setzen es um.“ Pro Asyl begrüßte die Entscheidung,
fordert aber weiterhin eine Abschaffung des AsylbLG.
18 Jul 2012
## AUTOREN
Christian Rath
## TAGS
Bundestag
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