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# taz.de -- Minderjährige Flüchtlinge in Bayern: „Wir werden hier verrückt…
> In der Bayernkaserne in München leben minderjährige unbegleitete
> Flüchtlinge. Ihr Aufenthalt dort ist weder kindgerecht noch
> menschenwürdig. Ein Besuch.
Bild: Allein in der Fremde: Jugendliche in der Münchner Bayernkaserne.
MÜNCHEN taz | Es sei der Geruch, sagt Nemat*, den er nie mehr vergessen
werde. Drinnen, in dem karg möblierten Zimmer, das sich der junge Afghane
elf Monate lang mit vier anderen Jungen teilte, ist er kaum wahrnehmbar.
Schlimm wird er erst draußen, auf dem spärlich beleuchteten Gang, der zu
einem heruntergekommenen Krankenhaus gehören könnte, auch zu einem
Gefängnis, oder eben zu einer seit Jahren ausgedienten Kaserne.
Hier, wo außer einem alten Eisenbett und ein bisschen Müll nichts ist und
afghanische Popsongs in Diskolautstärke hinter einer der vielen
verschlossenen Türen wummern, steht ein Geruch in der Luft, der sich durch
nichts vertreiben lässt. Eine faulige Melange aus dem Odeur getragener
Socken, jahrzehntelang ausgedünstetem Männerschweiß und altem Bratenfett.
Diesen Geruch wird Nemat für immer in Erinnerung haben, wenn er an die
Bayernkaserne zurückdenkt, den Ort seiner Ankunft in Deutschland.
Nemat, enge Jeans, schwarze, glänzende Trainingsjacke, ist 17 Jahre alt und
stammt aus einem Dorf nahe Ghasni in Afghanistan. Er gehört einer
schiitischen Minderheit an, die sich Hasara nennt, und das allein war für
seine mehrheitlich paschtunischen Landsleute Grund genug, Nemats Familie zu
drangsalieren.
Der Vater, erzählt der schlaksige junge Mann mit dem gelblichen Teint und
dem gegelten schwarzen Haar, habe oft geschäftlich in Kabul zu tun gehabt.
Doch eines Tages sei er von der Geschäftsreise nicht zurückgekehrt. Was mit
ihm geschah, habe er niemals erfahren, sagt er, blickt traurig zu Boden und
nestelt am Schnürsenkel seines klobigen Turnschuhs.
Lange habe die Familie nach dem Vater gesucht. Nach etwa drei Wochen kam
die Nachricht, der Vater sei ums Leben gekommen. Wie und warum, das sagte
man nicht. Eine Leiche wurde niemals gefunden. Nemat glaubt, dass die
Paschtunen seinen Vater töteten, beweisen kann er das nicht. „Wir Hasara
sind doch wie Spielzeug für die“, sagt er resigniert.
## Auf der Flucht von der Familie getrennt
Als Nemat 13 ist, flüchtet die Familie in den Iran, bleibt drei Jahre dort.
Zuerst arbeitet der Junge auf dem Feld, später fängt er im Keller eines
Afghanen als Schneider an, näht dort gefälschte Gucci-Taschen, damit die
Familie zu essen hat und die kleinen Schwestern in die Schule gehen können.
„Es hat gereicht, um zu überleben“, erinnert er sich. „Aber eine echte
Perspektive für die Zukunft gab es nicht.“
Also packt die Familie erneut die Koffer und schlägt sich zur türkischen
Grenze durch. Bei Nacht wollen sie über die Berge gehen. Doch sie werden
von der Polizei entdeckt. Schüsse fallen. Die Familie wird im Tumult
getrennt. Nemat, damals 16, schafft es über die Grenze. Der Rest der
Familie bleibt im Iran zurück. Von da an ist er auf sich allein gestellt.
Gemeinsam mit anderen jungen Afghanen macht er sich von Istanbul zur
griechischen Grenze auf. Ihr Ziel ist das vieler Flüchtlinge: die
Europäische Union. Doch der Empfang ist ruppig, die Jungen werden sofort
inhaftiert. „Malaka ist das erste Wort, das ich gelernt habe“, sagt Nemat
und lacht. Ein übles Schimpfwort, das auf Deutsch so viel wie „Wichser“
oder „Arschloch“ heißt.
Von Griechenland soll es weiter nach Italien gehen. Doch sie werden von der
Hafenpolizei geschnappt, inhaftiert, getreten und geschlagen. Die
griechische Polizei in den Hafenstädten ist berüchtigt für ihre Brutalität
gegenüber Flüchtlingen. Insgesamt vier Anläufe startet Nemat. Erst beim
letzten gelingt die Flucht.
Ein Schlepper bringt die Jungen nachts mit dem Schnellboot nach Italien.
Von dort gelangt er nach München und bezieht nur wenig später ein Zimmer in
der Bayernkaserne, einer ehemaligen Militäranlage im Münchner Norden, die
schon zu Nazizeiten bestand. „Als ich das hier gesehen habe, ist mir die
Lust auf Europa komplett vergangen“, sagt er.
## Rein nur mit Erlaubnis
Bis zu 150 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben dort, dazu rund 250
weitere Asylbewerber. Derzeit sind es knapp unter hundert junge Männer. Das
Gelände ist umzäunt. Rein kommt nur, wer eine Erlaubnis von der Regierung
von Oberbayern vorweisen kann oder wer von einem der Jungen als Besuch
angemeldet wird. An einem Wachhäuschen am Eingang muss Nemat dazu
persönlich vorsprechen, der Besucher seinen Personalausweis gegen eine
Plastikkarte tauschen, erst dann wird der Durchgang vom Wachpersonal
gewährt.
Für Journalisten ist diese Art, das Haus zu betreten, eigentlich nicht
gedacht, wie der Pressesprecher der Regierung von Oberbayern, Heinrich
Schuster, nachträglich rügt: „Wir hätten schon gerne vorher gewusst, dass
sie kommen.“
Insgesamt 13 Betreuer der Inneren Mission München kümmern sich um die
pubertären Jungen – tagsüber. Nachts sind sie sich selbst überlassen. Nur
die Angestellten einer Sicherheitsfirma patrouillieren. Personal, das nicht
pädagogisch ausgebildet und deshalb auch nicht für die Betreuung der
Jugendlichen geeignet ist, wie der Bayerische Flüchtlingsrat moniert.
Die Frage, ob es nachts viele Probleme gibt, will Nemat nicht so recht
beantworten. Er druckst und kichert, wippt nervös mit dem Bein, windet sich
ein wenig auf dem Stuhl. „Das lösen wir selbst“, sagt er nur. „Aber es
gehen schon mal Scheiben zu Bruch.“ Dann wird er doch deutlich: Klar gebe
es Streitereien, sagt er. „Aber nur aus Frust, weil es hier so beschissen
ist.“ Nach all den Strapazen der langen Reise, sei das Leben hier in der
Kaserne wie ein Schlag ins Gesicht: „Wir werden hier verrückt!“
Hinzu kommt: Nemats Asylverfahren ist noch nicht entschieden. Bis zum
Gerichtstermin muss er wohl noch Monate warten. Und auch einen Platz in
einer der wenigen Spezialklassen für Flüchtlingskinder an einer Münchner
Mittelschule hat der Junge noch nicht bekommen.
Im Frühjahr traten die Jugendlichen in einen Hungerstreik, um gegen die
schlechten Zustände in der Kaserne zu demonstrieren. Nemat gehörte zu
denen, die sich sogar weigerten, etwas zu trinken. Seither hat das
bayerische Kultusministerium das Angebot an Deutschkursen verbessert. Die
Lebensumstände in der Bayernkaserne, unter denen die Jungen leiden, sind
aber weitgehend gleich geblieben.
## Fliegen über den Toiletten
Fünfzig bis 60 Jugendliche teilen sich einen Gang und damit auch eine Küche
mit fünf dreckverschmierten elektrischen Kochplatten, Waschmaschinen und
eine paar Toiletten, über denen die Fliegen kreisen. Nur widerwillig führt
Nemat dort hin. „Das ist viel zu wenig für so viele Menschen“, klagt ein
Mitarbeiter des Bayerischen Flüchtlingsrats, der die Zustände kennt. „Durch
die Dauerbenutzung geht zudem ständig was kaputt, sodass manchmal nur noch
eine Kochplatte zur Verfügung steht.“
Die Regierung von Oberbayern, die auf dem Gelände das Hausrecht hat,
verweist auf die Eigenverantwortung der Jungen. „Grundsätzlich sind alle
Bewohner selbst für den pfleglichen Umgang mit den Sanitäreinrichtungen und
Küchen verantwortlich“, sagt Pressesprecher Heinrich Schuster. Wenn das
nicht klappe, sei das Sache der Betreuer vor Ort.
Die Behörde bezahle für die Grundreinigung des Gebäudes etwa 18.000 Euro
monatlich. Die Elektrogeräte würden regelmäßig repariert. Der Bayerische
Flüchtlingsrat hält dagegen: Die Betreuer der Inneren Mission leisteten
wertvolle Arbeit in der Kaserne, es gebe aber schlichtweg zu wenige
Stellen.
Ginge es nach ihnen, sollten die Jugendlichen keinen Tag in der
Bayernkaserne zubringen. „Eine Kaserne ist nicht das richtige Umfeld für
Kinder, die aus kriegsähnlichen Bedingungen geflüchtet sind“, sagt ein
Mitarbeiter des Flüchtlingsrats. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
gelten gemäß der von der UN festgelegten Kinderrechte und der Genfer
Flüchtlingskonvention als „besonders schutzbedürftige Gruppe“.
## Elf Monate in der Kaserne
Der Aufenthalt in einer Clearingstelle, in der entschieden wird, welcher
Art von Betreuung die Jugendlichen bedürfen, ist eigentlich auf maximal
drei Monate festgelegt. Die meisten bleiben jedoch viel länger in der
Bayernkaserne. Nemat zum Beispiel war elf Monate dort untergebracht.
Auch hier schiebt die Regierung von Oberbayern die Verantwortung auf
andere. Das Stadtjugendamt verfüge nicht über ausreichend Plätze in der
Jugendhilfe, heißt es. Auch weigerten sich viele Flüchtlinge, in ein
Wohnheim außerhalb Münchens zu ziehen.
Mitarbeiter des Flüchtlingsrates klagen, es sei unzumutbar, die
Jugendlichen nach zehn Monaten des Hoffens und Wartens von ihren Freunden
zu trennen. Der Flüchtlingsrat verweist auf die gesetzliche Lage in Bayern.
Ihn sieht er als Ursache für die miserablen Zustände in der Kaserne.
Im Freistaat gelte für jugendliche Asylbewerber ab 16 Jahren das Asylrecht
und nicht, wie in den meisten anderen Bundesländern, das
Jugendschutzgesetz. Deshalb würden die Jugendlichen hier schon ab 16 Jahren
wie Erwachsene behandelt. Und die sollen, das hat der Freistaat schriftlich
festgelegt, nicht bleiben, sondern mit allen Mitteln dazu gebracht werden,
in ihr Heimatland zurückzukehren. Bei Nemat hätten die bayerischen Behörden
dieses Ziel fast erreicht. „Im Vergleich zu diesem Ort ist das Leben in
Afghanistan viel schöner“, sagt er wehmütig über seine Heimat, die er nur
noch aus der Erinnerung kennt. Trotzdem hat er durchgehalten.
Nach einem knappen Jahr voller Resignation und Langeweile, voll Dreck und
Streit, wohnt der junge Afghane nun in einer Jugendhilfeeinrichtung mit
Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Den Schlüssel für sein altes Zimmer in der
Kaserne hat er behalten. Ab und zu kommt er zurück, um seine ehemaligen
Zimmergenossen zu besuchen.
*Name von der Redaktion geändert
24 Jul 2012
## AUTOREN
Marlene Halser
## TAGS
Minderjährige Geflüchtete
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