# taz.de -- Gerechtigkeit und Studiengebühren: Karl Marx hatte recht | |
> Nun überlegt auch Bayern, die Studiengebühren abzuschaffen. Das wäre der | |
> Abschied von einem emanzipatorischen Projekt. | |
Bild: Gewinnbringendes Studium: Kämpfen Asta-Fritzen für Skiurlaube? | |
Schade eigentlich. Jetzt beginnt auch Bayern, sich aus den Studiengebühren | |
wieder zurückzuziehen. Ministerpräsident Horst Seehofer hat eine „offene | |
Diskussion“ über das Bezahlstudium angekündigt. | |
Diese Aktion ist nicht nur Beweis für den Populismus eines Wahlkämpfers. | |
Sie markiert zugleich den Abschied von einem, ja, emanzipatorischen | |
Projekt: Studiengebühren sind nämlich nicht, wie gern behauptet, ein Mittel | |
der Ausschließung, sondern im Gegenteil: Sie verstärken demokratische | |
Beteiligung – und sie sind zugleich ein Moment des sozialen Ausgleichs. | |
Jedenfalls können sie es sein. | |
Wie das? Das fragt sich LeserIn zu Recht. Denn den Eintritt ins Studium mit | |
einem Preis zu versehen verengt den Zugang zur Uni. Weil es sich nicht mehr | |
jeder leisten kann. Das stimmt – aber eben nur auf den ersten, flüchtigen | |
Blick. | |
Die empirischen Daten offenbaren ein anderes Bild: Das Nadelöhr für | |
Arbeiterkinder ist nicht etwa die Campus-Maut, sondern es ist die scharfe | |
Auslese, die von der Schulstruktur ausgeht. Es gibt Studien jeder Methodik | |
und unverdächtiger Herkunft, die das zeigen. | |
## Die Achillesferse des Bildungssystems | |
Der sogenannte Bildungstrichter (aus der Sozialerhebung der Studentenwerke) | |
beweist seit vielen Jahren, dass nur 11 bis 14 Prozent der Arbeiterkinder | |
auf Hochschulen kommen, aber satte 83 Prozent der Beamtenkinder. Ursache | |
dafür ist, dass es Eltern der sozialen Herkunftsgruppe „hoch“ gelingt, 85 | |
von 100 Kindern in die gymnasiale Oberstufe zu hieven – und von denen | |
wiederum 95 Prozent auf die Hochschule. Den Eltern der sozialen | |
Herkunftsgruppe „niedrig“ (so heißen Arbeiterfamilien soziologisch heute) | |
bringen nur 36 von 100 Kindern auf die höhere Schule; und von ihnen nur 31 | |
Prozent auf die Uni. | |
Die Übergangszahlen schwanken geringfügig, aber der Gegensatz zwischen den | |
Studienerfolgen der Ober- und Unterschicht bleibt stabil. Der | |
Bildungstrichter bestätigt damit das Ergebnis jeder einzelnen Pisa-Studie: | |
Schulische Leistungen und Fortkommen hängen in Deutschland von der sozialen | |
Herkunft ab. Es ist die Achillesferse des deutschen Bildungssystems. Oder | |
genauer: Es ist die Schule, die vom Studium abhält und nicht etwa die | |
Uni-Gebühr. | |
Was passiert nun, wenn Studiengebühren hinzukommen? Auch das weiß man, dank | |
einer Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin (die | |
übrigens – auch von dieser Zeitung – konsequent kleingeredet wurde). Danach | |
haben Gebühren keine abschreckende Wirkung. | |
„Mit keiner der durchgeführten Analysen kann ein negativer Effekt von | |
Studiengebühren auf die Studierneigung identifiziert werden“, schrieben die | |
Forscher 2011. Es gibt viele weitere Studien, etwa der OECD, welche die | |
Vorteile eindrucksvoll belegen, die Akademiker aus ihrem Studium ziehen. | |
## „Erziehungskosten aus dem Steuersäckel“ | |
Das schlagendste Argument stammt aber vielleicht von Karl Marx. Er notierte | |
1875 in seiner Kritik am Gothaer Programm der SPD: „Wenn in einigen Staaten | |
höhere Unterrichtsanstalten unentgeltlich sind, so heißt das faktisch nur, | |
den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel | |
zu bestreiten.“ | |
All die Studien zu zitieren, die das Märchen „Studiengebühren sind die | |
Ursache sozialer Selektion“ fortschreiben, ermüdet freilich. Man muss, um | |
besser zu verstehen, was es mit Gebühren und Gesellschaft auf sich hat, | |
über zwei Dinge sprechen. Erstens: Wieso ignoriert die akademische | |
Oberschicht diese Zahlen? Und zweitens: Wie könnte denn ein intelligentes | |
Studiengebührenmodell aussehen? | |
Erstens: Es gibt eine Vielzahl von grandiosen Scheinargumenten gegen | |
Studiengebühren. Der wahre Grund aber, warum Akademiker das Bezahlstudium | |
bekämpfen, ist sehr einfach: Jeder ist sich selbst der Nächste. Die | |
Studierten verteidigen ihre Privilegien. Die Kinder der – zugespitzt | |
formuliert – Reichen und Gebildeten bekommen das Studium geschenkt. Das | |
soll so bleiben. | |
Das Mantra der Allgemeinen Studentenausschüsse, das in etwa „Studium für | |
alle“ lautet, ist nichts anderes als Propagandaschwindel. | |
Studentenvertreter betätigen sich als Lobbyisten ihrer Klasseninteressen – | |
oder als nützliche Idioten der gehobenen Beamten- und Bürgerschichten. | |
Asta-Fritzen kämpfen im Che-Guevara-T-Shirt für ein vermeintlich | |
kostenloses Studium. In Wahrheit aber sind sie die Vorhut reicher Ärzte-, | |
Anwälte- und Redakteurskinder, die Papis Kohle weiter in Skiurlaube statt | |
in die Campus-Maut stecken wollen. So weit, so schlecht. | |
## Geld gegen Mitbestimmung | |
Spannender ist die zweite Frage: Wie kann ein intelligentes Gebührenmodell | |
aussehen? Die taz hat 2004 ein solches Modell vorgelegt, und es hätte | |
emanzipatorische Kraft. Warum? Die demokratisch-soziale Lage an den | |
Hochschulen sieht so aus, dass die Bürgerkinder ihr Studium genießen – und | |
sich um Wahlen in die Selbstverwaltungsorgane nicht weiter scheren. | |
Teilweise gehen nur 9 Prozent zur Wahl, maximal reicht die Wahlbeteiligung | |
bis knapp über 20 Prozent. | |
Die Idee wäre nun diese: Wenn sich die StudentInnen an der Finanzierung der | |
Hochschulen beteiligen, sollen sie das Geld auch selbst verwalten (dürfen). | |
Dann würde die Wahlbeteiligung wahrscheinlich dramatisch steigen – parallel | |
zu dem Interesse daran, ihre Studiengebühren sinnvoll einzusetzen. | |
Immerhin handelt es sich dabei, wie die Abschaffung der Gebühren in NRW und | |
Baden-Württemberg zeigte, um dreistellige Millionenbeträge. Eine Steigerung | |
der Wahlbeteiligung an den Universitäten ist übrigens wichtig. In der CDU | |
wird bereits laut darüber nachgedacht, die studentische Selbstverwaltung an | |
den Hochschulen komplett abzuschaffen – weil sich so wenige dafür | |
interessieren. | |
Über all das würde es sich lohnen nachzudenken. Aber die politischen | |
Mehrheiten sind anders. Rot-grüne Landesregierungen haben die Campus-Maut | |
nicht etwa zu einem Modell demokratischer Mitbestimmung erweitert, sondern | |
abgeschafft. Eine solche Politik wirkt sich übrigens sofort auf eine | |
progressive Bildungsreform aus – es macht sie unmöglich. | |
Denn wer, wie etwa NRW, 250 Millionen Euro ausgibt, um privilegierten | |
StudentInnen Gebühren zu erstatten, der hat eben kein Geld mehr für | |
benachteiligte Arbeiterkinder in Ruhrgebietsschulen. Mit anderen Worten: | |
Das emanzipatorische Projekt „demokratische Studiengebühr“ ist passé, von | |
links bis konservativ. | |
Wie lange es sich freilich Friseurinnen, Hilfsarbeiter und andere | |
Nichtstudierte gefallen lassen, dass sie mit ihren Steuern Universitäten | |
bezahlen, die ihre Kinder nicht besuchen können, steht auf einem anderen | |
Blatt. | |
24 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
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