# taz.de -- Pro und Contra Studiengebühren: Brauchen wir Studiengebühren? | |
> Studiengebühren sind dringend notwendig – der Gerechtigkeit wegen. | |
> Studiengebühren gehören dringend abgeschafft – der Gerechtigkeit wegen. | |
> Ein Pro und Contra. | |
Bild: Bildung für alle: Aber was soll sie kosten? | |
## JA! | |
In Nordrhein-Westfalen wird am Sonntag gewählt. Über eine der wichtigsten | |
Gerechtigkeitsfragen aber wird es keine Abstimmung geben: Studiengebühren. | |
Selbst die CDU hat die Campusmaut vorsorglich aus ihrem Programm genommen. | |
Das bedeutet: Die Gebühren für den privaten Karriereturbo Hochschulen | |
bleiben abgeschafft. Anders gesagt: In NRW darf eine kulturelle und soziale | |
Oberschicht ihre Kinder ab sofort wieder mit dem profitträchtigen Privileg | |
eines Studiums beglücken – ohne dafür zu bezahlen. Das ist, man kann es | |
nicht anders sagen, ein Affront gegen alle Nichtabiturienten, vor allem | |
gegen Haupt- und Sonderschüler. Denn sie werden das Universitätsprivileg | |
nicht in Anspruch nehmen. Es ist ihnen juristisch durch ihren Bildungsmalus | |
verwehrt. Sie müssen also mit ihren Steuern jene Studienplätze finanzieren, | |
die sie und ihre Kinder so gut wie nie einnehmen werden. | |
Für einen Staat, der qua Verfassung verspricht, die Gesellschaft gerechter | |
zu machen, ist das eine schwere Hypothek. An den Hochschulen wird das | |
zutiefst ungerechte Schulsystem konsequent weitergeführt. Der Staat | |
benachteiligt die Kinder aus kulturell armen Familien – und er bevorzugt | |
die Kinder der – überspitzt gesagt – Schönen und Reichen. | |
Das ist eine unbequeme Wahrheit. Die in Deutschland nicht ohne Weiteres | |
angenommen wird. Studien seriöser Institute wie des Wissenschaftszentrums | |
Berlin für Sozialforschung (WZB) haben kürzlich gezeigt, dass von einem | |
Bezahlstudium keine realen Abschreckungseffekte ausgehen. Im Gegenteil, | |
diejenigen Teile der Unterschicht, die das Abitur schaffen, gehen relativ | |
gezielt dorthin, wo das Studium kostet. Sie machen eine | |
Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Sie wüssten, dass es sich lohnt, in Bildung zu | |
investieren, schreiben WZB-Autoren. | |
Als die sehr unbequemen Erkenntnisse des Instituts im Bundestag diskutiert | |
wurden, durfte man staunen. Die Antigebührenlobbyisten von links bis grün | |
drehorgelten einfach ihr dümmliches Argument weiter, Gebühren seien | |
ungerecht – gerade so, als hätte es die WZB-Studie nie gegeben. In der | |
Studie steht, Gebühren verriegeln die Unis für Arme nicht. Gewerkschaften | |
und Studentenverbände behaupteten aber kess das Gegenteil – ohne | |
empirischen Beleg. So etwas nennt man Ideologie. Die Welt aus seiner | |
falschen Vorstellung leiten zu wollen, obwohl die empirischen Fakten etwas | |
anderes sagen. | |
Weil man keine eigenen Erfahrungen gelten lässt, werden in der Debatte | |
immer wieder solche aus dem Ausland bemüht – zum Beispiel die USA: Dort | |
trieben hohe Studiengebühren die Mittelschichtsfamilien in Scharen in die | |
Armut. Ein gar schröckliches Beispiel! | |
So gemahnen es die Gebührengegner hierzulande mit tiefem Bass und hohem | |
Zeigefinger. Was sie nicht sagen: Erstens ist es US-Familien offenbar viel | |
wert, in ihre Kinder und das Studium zu investieren. Und zweitens: In den | |
USA kostet ein Studium bisweilen 6.000 Dollar pro Monat, in Deutschland | |
aber nicht mal 100 Euro! Was für ein grotesker Vergleich. Für wie dumm | |
halten Gebührengegner eigentlich die Öffentlichkeit? | |
In dieser Zeitung war gerade ein Bericht aus den Arbeiterunis in den | |
Elendsvierteln rund um das peruanische Lima zu lesen. Dort haben die Macher | |
der aus dem Wüstenboden gestampften Volksuni Folgendes bemerkt: Die Kurse | |
kommen besser an – wenn sie etwas kosten. Die Studenten nehmen die | |
Ausbildung ernster, wenn sie nicht umsonst ist. | |
Diese Studenten sind nicht etwa reich, sondern arm. Die Kinder von | |
Indígenas und Bauern, die in der Stadt ihr Glück suchen. Und für ihre | |
Ausbildung einen Beitrag leisten (wollen). Eine selbstverständliche | |
menschliche Regung – die deutsche Gebührenideologen Unrecht nennen. Die | |
Erde ist und bleibt eben eine Scheibe. (Christian Füller) | |
## NEIN! | |
Die spinnen doch die Briten! Und die Chilenen und die Kanadier! Die gehen | |
gegen Studiengebühren auf die Straße. Haben diese Bürgersöhnchen und | |
-töchter nicht begriffen, welchen unverzichtbaren Beitrag sie für ihre | |
Hochschulen leisten? Ganz zu schweigen von der renditeträchtigen | |
Investition in sich selbst? Haben sie offenbar nicht! | |
In NRW knickt die CDU jetzt schon präventiv ein und verspricht, die | |
unpopulären Studienbeiträge von 1.000 Euro pro Jahr im Falle eines | |
Wahlsieges nicht wieder einzuführen. By the way – mit diesem Sümmchen | |
starteten Studiengebühren vor 15 Jahren auch in Großbritannien. | |
Mittlerweile zahlt man dort das Neunfache. | |
Mit dem Rückzieher der nordrhein-westfälischen Christdemokraten aus dem | |
Gebührengeschäft haben sich Studiengebühren im bevölkerungsreichsten | |
Bundesland erst mal auf Jahre hinaus erledigt. Und im Falle eines | |
Regierungswechsels könnten 2013 die nächsten beiden Bezahlhochburgen Bayern | |
und Niedersachsen fallen. Deutschland wird wieder gebührenfreie Zone, und | |
das ist klug so. Weil Kita-Ausbau und freies Studium eben kein Widerspruch | |
sind. | |
Die rot-grüne Regierung unter Hannelore Kraft hatte die Gebühren in NRW | |
bekanntlich 2011 wieder kassiert und erstattet den Hochschulen stattdessen | |
mindestens 249 Millionen Euro pro Jahr aus dem Staatssäckel. Zusätzlich | |
will die Regierung 120 Millionen Euro jährlich in den Ausbau der | |
frühkindlichen Bildung stecken. | |
Das kostet zwar, ist aber konsistent, weil es dem Zweck dient, die | |
Aufstiegschancen für mehr Kinder zu verbessern. Soll das gelingen, muss die | |
Bildungs-Trasse am Anfang und! am Ende ausgebaut werden. Ein Mautposten im | |
letzten Viertel einer Schnellstraße ist absolut idiotisch, wenn auf dieser | |
möglichst viele zum Ziel kommen sollen. | |
Das Argument, dass eh nur solvente Akademikerkinder das letzte Viertel der | |
deutschen Bildungsautobahn nehmen und studieren, sticht an vielen | |
Hochschulen gerade im Ruhrgebiet längst nicht mehr. Die Uni Duisburg/Essen | |
hat 2009 ihre Studierenden befragt und festgestellt, dass knapp über die | |
Hälfte von ihnen aus Familien stammt, in denen weder Mutter noch Vater | |
studiert hatten. | |
Dann haben 500 Euro Semestergebühr die „Arbeiterkinder“ also nicht vom | |
Studium abgehalten? Tja, das kann man über einen Zeitraum von vier Jahren, | |
in dem gerade mal ein geburtenstarker Jahrgang durchgängig gezahlt hat, | |
nicht wirklich feststellen. Und zu Recht weisen die Forscher des | |
Wissenschaftszentrums Berlin in der einzigen bis dato seriösen Studie, die | |
diese These stützt, darauf hin, dass aus ihren Ergebnissen nicht zu | |
schließen sei, dass Gebühren per se keinen abschreckenden Effekt haben, | |
wenn sie denn stiegen. | |
Aussagekräftiger ist ein anderes Ergebnis der Uni-Befragung. 70 Prozent der | |
Duisburger Studierenden hat angegeben, neben dem Studium zu jobben, etwa | |
die Hälfte ging davon aus, ihr Studium nicht in der Regelstudienzeit zu | |
beenden, und dabei werden zwei Drittel finanziell zusätzlich von ihren | |
Eltern unterstützt. | |
Am Ende bleiben die Studiengebühren also an den Eltern hängen. Wenn es aber | |
Staatsräson ist, dass Deutschland mehr Akademiker braucht, dass Bildung | |
gesellschaftlich und volkswirtschaftlich sinnvoll und nebenbei auch ein | |
Wert für sich ist – wenn man vormodernen Zauseln wie Kant und Humboldt | |
glaubt – dann muss diese Aufgabe von allen finanziert werden. | |
Und zwar über ein gerechtes Steuersystem, in dem auch Reiche, Aktien- und | |
Immobilienbesitzer endlich mal gebührend berücksichtigt werden. Diese und | |
ihre Lobby-Partei FDP haben ja sonst auch nichts gegen eine | |
Umsonst-Demokratie und einen Gratis-Rechtsstaat. Bildung ist Bürgerrecht | |
und Staatsaufgabe, und gegen die Privatisierung von Bildung lohnt es sich | |
zu kämpfen. Immer noch und immer wieder. Bevor es zu spät ist. (Anna | |
Lehmann) | |
11 May 2012 | |
## AUTOREN | |
C. Füller | |
A. Lehmann | |
## TAGS | |
Studiengebühren | |
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