# taz.de -- Schwarz-gelber Koalitionsgipfel: Ein gut orchestrierter Krach | |
> Ein Konzept sucht man bei den Ergebnissen des Koalitionsgipfels | |
> vergeblich. Selbst die Schönredner von Schwarz-Gelb geben sich nur | |
> blumig-vage. | |
Bild: Gruppenbild mit Bundesadler | |
BERLIN taz | Nichts macht die wahre Bedeutung des Koalitionsgipfels klarer | |
als der Umstand, dass Wolfgang Schäuble nicht dabei war. Ausgerechnet der | |
Kassenwart fehlte, als in der Nacht zum Montag Union und FDP | |
milliardenschwere Entscheidungen fällten. Der Finanzminister konnte | |
beruhigt zum G-20-Gipfel nach Mexiko fliegen. Denn was die | |
Koalitionspartner einander angeblich mühsam abgerungen haben, war in Inhalt | |
und Form absehbar. Von der Wunschkoalition des Jahres 2009 ist eine mut- | |
und ziellose Truppe geblieben. CDU, CSU und FDP haben mit ihren | |
Entscheidungen den Bundestagswahlkampf eingeläutet. | |
Ein Konzept sucht man bei den Ergebnissen der achtstündigen nächtlichen | |
Verhandlungen vergeblich. Selbst der fürs Schönreden der CDU-Politik | |
engagierte Generalsekretär Hermann Gröhe flüchtete sich in blumige Sätze: | |
„Im Übrigen finde ich es auch schwierig, die Dinge jetzt einzeln der einen | |
oder anderen Partei allein zurechnen zu wollen.“ Erfolge verkauft man | |
anders. Jeder Koalitionär will nur noch retten, was zu retten ist. Am | |
ehesten gelingt das noch der FDP. | |
Paradoxerweise will sie ihre Unersetzbarkeit mit einer Entscheidung | |
belegen, die auch alle anderen Parteien einschließlich der Opposition | |
herbeiführen wollten. Ausgerechnet die selbsterklärte Partei | |
marktwirtschaftlicher Vernunft schafft zum Jahreswechsel die Praxisgebühr | |
ab. Jedoch: Die rund 2 Milliarden Euro, die jährlich in der gesetzlichen | |
Krankenversicherung fehlen werden, müssen früher oder später durch | |
Erhöhungen der Kassenbeiträge wieder hereinkommen. Die FDP sorgt also damit | |
für eine Steigerung der Lohnnebenkosten. | |
Abweichungen von der reinen Lehre nimmt sie also gerne in Kauf. Die 10 Euro | |
pro Quartal und Kassenpatient sind beim Volk extrem unbeliebt. Indem die | |
FDP das nutzlose Instrument abschafft, hofft sie auf die Dankbarkeit | |
breiter Wählerkreise – auch in solchen, die gemeinhin nicht zu ihrer | |
Klientel zählen, vor allem bei der wachsenden Gruppe der Rentner. Dieser | |
Umstand offenbart die Misere der Freidemokraten: Die vorgeblichen | |
Wirtschaftsexperten genieren sich für ihren Wirtschaftsminister und | |
Nochparteichef. Statt Philipp Rösler bildet ausgerechnet ein | |
Gesundheitsminister – normalerweise eines der unbeliebtesten | |
Kabinettsmitglieder – das letzte Pfund der Partei. | |
## Der Gesundheitsminister pokert hoch | |
Aus Teilnehmerkreisen sickerte durch, dass die FDP ganz auf den Symbolwert | |
der Praxisgebühr setzt. Die Union soll angeboten haben, den zentralen | |
Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung von 15,5 auf 15,2 Prozent | |
zu senken – eine Ersparnis von 3 Milliarden Euro für Kassenversicherte. | |
Bahr pokerte hoch. Seine Forderung: Abschaffung der Praxisgebühr und | |
Absenkung um 0,1 Punkte auf 15,4 Prozent. | |
Als der Gesundheitsminister sich damit nicht durchsetzen konnte, entschied | |
er sich für die Praxisgebühr. Dabei entlastet deren Ende die Versicherten | |
nur um 2 Milliarden Euro. Das Kalkül ist klar. Bahr selbst sprach am Montag | |
von „spürbaren Entlastungen“ der Bürger. Beim Arzt nicht mehr 10 Euro in | |
bar zücken zu müssen, ist nun einmal spürbarer als die Absenkung eines | |
Versicherungsbeitrages. | |
Auch die niedergelassenen Ärzte sollen ihrer traditionellen | |
Interessenvertretung wieder gewogen werden. Das Ende der Praxisgebühr | |
befreit die Mediziner nach acht Jahren von lästigem Papierkram. „Damit ist | |
dieser Spuk jetzt vorbei“, sagte Rösler am Montag. „Niemand wird sie | |
vermissen.“ Den FDP-Chef freut auch, dass die Koalition die Gebühr schon | |
zum Jahreswechsel kippt: gerade noch rechtzeitig vor der niedersächsischen | |
Landtagswahl am 20. Januar. Sie ist Röslers letzte Chance, sich im Amt zu | |
halten. | |
Die Bayern wählen im kommenden September. Einen Monat zuvor soll erstmals | |
das Betreuungsgeld ausgezahlt werden. CSU-Chef Horst Seehofer weiß: Die | |
heftig umstrittene Geldzahlung an Eltern, die ihr Kleinkind nicht in eine | |
Kita schicken, mag großstädtische Klientelen irritieren. Auf dem Land aber | |
kommt die Idee überwiegend gut an. Nicht zuletzt Seehofers monatelanger | |
Schaukampf mit der FDP verhalf den Christsozialen zu blendenden | |
Umfragewerten. Dass selbst viele in der Parteiführung die neue | |
Transferleistung für einen Schmarrn halten – geschenkt. Wahlkampf ist | |
Wahlkampf. | |
## Die Kanzlerin gibt sich als Krisenmanagerin | |
Damit Rösler sein Gesicht wahren kann, soll künftig auch möglich sein, das | |
Geld in einem Ausbildungskonto oder für private Altersvorsorge fürs Kind | |
anzulegen. Dafür gibt es einen Bonus von 15 Euro. Tatsächlichen und | |
vorgegaukelten Knatsch darum nutzten beide Seiten zur Profilierung. Selten | |
klang Krach orchestrierter. | |
Vordergründig profitiert die CDU am wenigsten von den Ergebnissen des | |
achtstündigen Treffens. Allein die sogenannte Lebensleistungsrente könnte | |
sie sich zugutehalten. Doch ist offensichtlich, dass von der Aufstockung | |
der gesetzlichen Rente nur wenige Menschen profitieren werden, und das auch | |
nur in geringem Maße. Wer 40 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt und | |
privat vorgesorgt hat, wird nicht aus Dankbarkeit die CDU wählen, nur weil | |
seine Rente ein paar kleine Geldscheine über dem Minimum liegt. | |
Angela Merkel vertraut auf ihr präsidiales Image. Die Kanzlerin gibt sich | |
als überparteiliche Krisenmanagerin, als Schlichterin bei innenpolitischen | |
Streitigkeiten. Koalitionszwist werten viele Bürger erstaunlicherweise | |
nicht als Führungsschwäche der Regierungschefin, sondern als Fehlverhalten | |
der beteiligten Parteien. Merkel ist weit beliebter als ihr Dreierbündnis. | |
Da liegt es für die Kanzlerin nahe, Fähigkeiten in den Vordergrund zu | |
rücken, die ihr auch nach Abwahl von Schwarz-Gelb noch nützlich sein können | |
– egal, welche Partei als Nächstes das Pech hat, an ihrer Seite zu | |
regieren. | |
Doch die nächtlichen Entscheidungen könnten die Kanzlerin bald einholen. | |
Ihre Minilösung beim Thema Altersarmut genügt nicht, um der Opposition das | |
Großthema aus der Hand zu schlagen. Zugleich flaut die Konjunktur ab. Die | |
Reserven in der gesetzlichen Krankenversicherung werden schmelzen. Die 2 | |
Milliarden Euro, die dem Gesundheitssystem durch Abschaffung der | |
Praxisgebühr entgehen, müssen anderswo hereinkommen. | |
Aber mit ein wenig Glück für Schwarz-Gelb steht diese Entscheidung ja erst | |
nach der Bundestagswahl an. Bis dahin drohen zehn Monate innenpolitischer | |
Stillstand. | |
5 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
Matthias Lohre | |
## TAGS | |
Praxisgebühr | |
FDP | |
CDU | |
CSU | |
Koalition | |
Daniel Bahr | |
Praxisgebühr | |
Betreuungsgeld | |
Praxisgebühr | |
Bayern | |
FDP | |
Koalition | |
Praxisgebühr | |
Koalition | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Studie zur Krankenversicherung: Warten, bis der Arzt kommt | |
Gesetzlich Versicherte müssen länger auf Arzttermine warten als privat | |
Versicherte. Das zeigt eine neue Studie. Eine Mehrheit spricht sich für | |
eine Bürgerversicherung aus. | |
Bundestag schafft Praxisgebühr ab: Selten einstimmig | |
Mit den Stimmen von allen 548 anwesenden Abgeordneten hat der Bundestag die | |
Praxisgebühr wieder abgeschafft. Die Gebühr hatte ihre Steuerungsfunktion | |
nicht erfüllt. | |
Einführung von Betreuungsgeld: Was von Norwegen zu lernen ist | |
Norwegen hat schon ein Jahrzehnt Erfahrung mit der Herdprämie. Weil sie | |
sich negativ auf Gleichstellung und Integration auswirkte, wurde sie dort | |
eingekürzt. | |
Sachverständigenrat kritisiert Koalition: Uneinig bei Europa und Energie | |
Der Sachverständigenrat verurteilt die Beschlüsse der Koalition zu | |
Betreuungsgeld, Praxisgebühren. Andere Themen werden sehr unterschiedlich | |
bewertet. | |
Die CSU in Bayern: Vorstufe zum Paradies | |
Die CSU hat sich erfolgreich mit der Identität Bayerns verbunden. Der SPD | |
bereitet das knapp ein Jahr vor den Wahlen ein wahres Kopfzerbrechen. | |
Einführung des Betreuungsgeldes: Kritik von innen, Kritik von außen | |
Das Betreuungsgeld bleibt unbeliebt – innerhalb und außerhalb der | |
schwarz-gelben Koalition. Die Grünen wollen es nach einem Regierungswechsel | |
wieder abschaffen. | |
Kommentar Koalitionsnacht: Betreutes Regieren | |
Die Koalition bewegt sich mit ihren Beschlüssen in einem Paralleluniversum. | |
„Lebensleistungsrente“ ist in ihrer derzeitigen Schwammigkeit der blanke | |
Hohn. | |
Koalitionsgipfel verteilt Wahlgeschenke: Für jeden etwas | |
Auf dem Koalitionsgipfel von CDU, CSU und FDP sind sich die Parteien einig: | |
Jede Partei darf den Wählern Wohltaten zukommen lassen. Ein Faktencheck. | |
Kommentar Koalitionsgipfel: Fatale Botschaften | |
Die Herdprämie eingeführt und keine sinnvolle Rentenreform – Schwarz-Gelb | |
wird Deutschland mit ihrer dysfunktionalen Politik eine massive Altersarmut | |
bescheren. | |
Ergebnisse Koalitionsgipfel: Praxisgebühr für Herdprämie gestrichen | |
Union und FDP einigen sich auf Entlastungen für die Bürger im Wahljahr. Die | |
FDP kann dabei punkten. Die Opposition empört sich über derart „teure | |
Wahlgeschenke“. |