# taz.de -- Atomkraft in Tschechien: Die verflixte Schweißnaht | |
> Tschechien will neue Atomkraftwerke bauen. Dabei ist bis heute unklar, ob | |
> beim Bau der bestehenden Meiler gepfuscht wurde. | |
Bild: Gott steh ihnen bei, den Atomkraftwerken. Hier in Dukovany, das noch eine… | |
WUNSIEDEL taz | „Schweißnaht“, das Wort kann Dana Drábová auf Deutsch, w… | |
es ihr seit zehn Jahren ständig um die Ohren fliegt. Drábová, Chefin der | |
Atomaufsichtsbehörde in Tschechien, ist an diesem sonnigen Herbsttag im | |
Oktober ins bayerische Wunsiedel im Fichtelgebirge gekommen. Sie will die | |
Bürger davon überzeugen, dass es im tschechischen Atomkraftwerk Temelín | |
keine Probleme gibt. Die deutsche Grenze ist von Temelín keine 60 Kilometer | |
entfernt, Wunsiedel rund 200 Kilometer. | |
CSU-Bürgermeister und grüne Landräte sind gekommen, Drábová schüttelt | |
kräftig Hände vor dem Landratsamt, sogar die von Jan Haverkamp, Atomexperte | |
bei Greenpeace in Brüssel. Seit über zehn Jahren überzieht er Drábová und | |
ihre Behörde SUJB mit Klagen, weil bei wichtigen Schweißarbeiten in Temelín | |
gepfuscht worden sein soll. „Die Schweißnaht wird mich bis an mein | |
Lebensende begleiten“, sagt Drábová auf Denglisch – eine kleine, resolute | |
Frau in Jeans und Holzfällerhemd, das Haar kurz, in ihrer Stimme klingt | |
Ironie mit. Es klingt wie „Scheißnaht“, wenn sie „Schweißnaht“ sagt. | |
Das Problem der Wunsiedler: Sie haben nichts von Deutschlands Atomausstieg. | |
Tschechien will Temelín um zwei Reaktoren ausbauen, das südböhmische | |
Dukovany um einen. Atomkraft ist Kern tschechischer Energiepolitik. Bis | |
2040, so die Novelle des Energiekonzepts von November, sollen 55 Prozent | |
des im Land erzeugten Stroms aus der Atomkraft kommen. „Atomkraft – ja | |
bitte“, sagen zwei Drittel der Tschechen und alle fünf parlamentarischen | |
Parteien. | |
Haverkamp eröffnet in Wunsiedel das Duell. Drábová fläzt sich gelangweilt | |
in ihrem Sitz, „schon hundertmal gehört“ soll das wohl heißen. Es geht um | |
Schweißnaht 1-4-5, ihre Geschichte beginnt mit einem Fehler im Jahr 1994. | |
Die zwei Druckwasserreaktoren vom sowjetischen Typ WWER-1000/320 befinden | |
sich in Temelín im Bau. Ein russischer Bauleiter traut vermutlich seinen | |
Augen nicht richtig, als er sieht: Aus unerfindlichen Gründen hat jemand | |
ein Rohr falsch herum angeschweißt, um 180 Grad verdreht. Nicht irgendein | |
Rohr. Sondern eines der Wichtigsten. Eines aus dem primären Kühlkreislauf, | |
das direkt aus dem Reaktorbehälter von Block 1 führt. | |
Über einen Meter ist es dick, mindestens bis ins Jahr 2042 wird nach Plänen | |
der Tschechen Temelín laufen, so lange rauscht 320 Grad heißes Wasser unter | |
extremem Druck durch das Rohr, nachdem es den Reaktor gekühlt hat. Die | |
Russen schneiden das Rohr ab, drehen es herum und schweißen von Neuem. | |
Solch eine Schweißarbeit dauert normalerweise Monate. Jeder Arbeitsschritt | |
ist Hightech, jeder Zulieferer muss zertifiziert und geprüft sein. Ohne | |
eine akribische Dokumentation ist später nicht mehr nachvollziehbar, ob die | |
Naht der enormen Belastung jahrzehntelang standhält oder sich allmählich | |
verschlechtert. | |
## Ein Zeuge spricht von Pfusch | |
Greenpeace hat Kontakt zu einem Zeugen, der an den Arbeiten direkt | |
beteiligt gewesen sein will. Er sagt, damals sei gewaltig gepfuscht worden, | |
um den Zeitplan einzuhalten. Die Angaben des Zeugen sind so präzise, dass | |
ihn selbst eine Prüfingenieurin der SUJB für authentisch hält, sagt | |
Haverkamp. Er berichtet von einem Prüfbericht der Behörde aus dem Jahr | |
2001, der die Mängel beim Bau von Temelín haarklein auflistet und bis heute | |
zurückgehalten wird. Haverkamp und Drábová bezichtigen sich gegenseitig | |
mehr oder weniger offen der Lüge. | |
Denn Drábová sagt: Stimmt alles nicht, den Vorgang hat es nie gegeben. „Wir | |
lieben unser Land. Das Letzte, was wir uns wünschen, ist, unserem Land | |
etwas Schlimmes anzutun“, sagt sie. Da schwingt Empörung mit: Traut man den | |
Tschechen schlicht nicht zu, ein AKW ordentlich zu betreiben? Während des | |
Baus sei alles überprüft worden, danach auch, mehrmals, sagt Drábová. Auch | |
aufgrund der Greenpeace-Recherchen. Haverkamp hält dagegen: „Das Problem | |
ist, wenn die SUJB nach all den Jahren einen Fehler zugeben muss, verliert | |
Drábová ihr Gesicht.“ | |
Am Fall Temelín offenbart sich das Dilemma internationaler Atompolitik: | |
Staaten können sich gegenseitig verklagen, wenn sie unerlaubte Zölle auf | |
Bananen erheben. Ist die Sicherheit eines Atomkraftwerks zweifelhaft, gibt | |
es keinerlei rechtliche Handhabe. Im Fall von Temelín bleibt nichts übrig, | |
als auf die Beteuerungen Drábovás zu vertrauen. „Die Ergebnisse der Prüfung | |
weisen eindeutig nach, dass es im Laufe der Montage (und auch des | |
bisherigen Betriebs) der beiden Blöcke des KKW Temelín zu keinem unbefugten | |
Eingriff in keine einzige Schweißnaht gekommen ist“, heißt es in einem | |
Bericht der SUJB von 2007. Dass Temelín im normalen Betrieb versagt, halten | |
Experten für unwahrscheinlich. Allerdings: Was passiert, wenn sich der | |
Reaktor bei einem Störfall überhitzen sollte? Wenn über 1.500 Grad heißes | |
Wasser unter gewaltigem Druck das Material belastet? | |
## Kritik an tschechischen Tests | |
Das sind die Fragen, die Dieter Majer aufwirft. Er hat für die | |
Umweltministerien in Hessen und im Bund bis zu seiner Pensionierung fast 30 | |
Jahre lang Kernkraftwerke beaufsichtigt. Sein Urteil über die tschechischen | |
Tests: „Damit kann man die ursprüngliche Qualität einer Schweißnaht nicht | |
überprüfen.“ Voraussetzung dafür sei, sagt er, dass die Herstellung der | |
Naht detailliert dokumentiert ist, um Veränderungen überhaupt registrieren | |
zu können. Ist das geschehen? Ja, behauptet Drábová. Und wer, außer der | |
SUJB, hat jemals Einblick in diese Dokumente erhalten? Drábová verstrickt | |
sich in Widersprüche: | |
Gegenüber der taz nennt sie als Beispiel Teilnehmer eines | |
österreichisch-tschechischen Workshops im Jahr 2007. Ausgerechnet | |
Österreicher als Zeugen? Dort gilt Temelín manchen als größte Gefahr für | |
die nationale Sicherheit, zeitweise blockierten aufgebrachte Österreicher | |
sogar die Grenzen. | |
Wolfgang Kromp, Professor am Institut für Risikoforschung an der | |
Universität für Bodenkultur in Wien, leitete die österreichische | |
Expertenkommission, auf die sich Drábová bezieht. Er sagt | |
unmissverständlich: „Wir haben die Originaldokumente damals nicht | |
eingesehen. Diese Geschichte hat wie ein Verwirrspiel der tschechischen | |
Seite ausgesehen und den Eindruck erweckt, dass es in manchen Bauphasen des | |
Reaktors erhebliche Mängel in der Aufsicht gegeben hat. Hier sollte eine | |
wirklich unabhängige internationale Expertenkommission – mit Betonung auf | |
„unabhängig“ – die seinerzeitigen Vorgänge gründlich untersuchen.“ | |
## Bisher galt blindes Vertrauen | |
Offenbar hat bis heute niemand außer Drábovás Behörde die Dokumente | |
gesehen, die widerlegen könnten, dass beim Bau von Temelín gepfuscht wurde. | |
Selbst die EU-Stresstester nicht, die in diesem Jahr vor Ort waren. Sie | |
hatten eine ganze Liste von Mängeln in Temelín erstellt, die Schweißnähte | |
aber nicht kontrolliert. Ebenso wenig wie Kontrolleure der Internationalen | |
Atomenergiebehörde (IAEA), die erst vergangene Woche eine Inspektion auf | |
Einladung der Tschechen beendeten. Bisher vertrauen alle blind den Angaben | |
der SUJB und des Betreibers, des Energiekonzerns EZ. | |
Und das Verwirrspiel geht weiter. Den Wunsiedlern unterbreitete Drábová ein | |
unmissverständliches Angebot: Sie bot deutschen Atomaufsichtsbehörden an, | |
Temelín zu inspizieren. Dabei könne man auch Einblick in die Dokumentation | |
zu der Schweißnaht nehmen. Keinen Monat später wird das Versprechen wieder | |
kassiert. Bei einem Treffen der deutsch-tschechischen Kommission zur | |
nuklearen Sicherheit am 12. November behaupteten die Tschechen, eine solche | |
Einladung sei nie ausgesprochen worden. | |
Trotzdem dürften deutsche Behörden natürlich jederzeit ein Team entsenden. | |
Doch die Deutschen winken ab. „Das Bundesumweltministerium sieht dafür | |
keine fachlichen Anhaltspunkte“, heißt es auf taz-Anfrage. Man prüfe | |
allerdings nochmals die Akten zu Temelín – die eigenen. | |
26 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arzt | |
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