| # taz.de -- Debatte Bildung: Gut ist nicht mehr gut genug | |
| > Die strengen NCs der Universitäten bremsen ganze Abi-Jahrgänge aus. Die | |
| > Politik braucht eine Antwort auf die Warteschleifen-Problematik. | |
| Bild: Das Turbo-Abitur G8 und der Wegfall der Wehrpflicht führten im letzten J… | |
| Ein Abendessen in Berlin, sieben sogenannte Altlinke in ihren 50ern sitzen | |
| bei Hühnchen in Weißwein zusammen und erinnern sich an ihre | |
| Durchschnittsnote im Abi, Mitte der 70er. Harhar, das waren noch Zeiten: | |
| 3,0! 2,5! „War doch damals völlig in Ordnung.“ Nur die Möchtegern-Ärzte | |
| erschufteten sich damals ein Einser-Abi, weil man sich das Medizinstudium | |
| sonst abschminken konnte, es sei denn, man war bereit, in Bari oder Bologna | |
| zu studieren. | |
| Doch die Stimmung der Runde sinkt, sobald es um den eigenen Nachwuchs und | |
| dessen Studierchancen geht: „Sauerei!“ Mit einer Durchschnittsnote von 1,8 | |
| kann man heute an der Freien Universität in Berlin nicht mal mehr mit | |
| Politikwissenschaft beginnen, einem Fach, das früher als Freifahrtschein in | |
| die Arbeitslosigkeit galt. | |
| Wer mit 1,8 Psychologie studieren will, irgendwo im Bundesgebiet, findet | |
| sich auf langen Bewerberlisten weit hinten wieder. Und wer mit 2,5 ein | |
| Studium der „Sozialen Arbeit“ aufnehmen möchte, bisher nicht als | |
| Elitestudium bekannt, muss eventuell lange Wartezeiten einkalkulieren. | |
| ## Biografische Brüche | |
| Ein Durchschnitt von 2,9 läuft in den Internetforen von | |
| Studienplatzsuchenden unter „schlechtes Abi“, was bemerkenswert ist, denn | |
| dieser Wert liegt qua definitionem immer noch zwischen „gut“ und | |
| „befriedigend“. In Baden-Württemberg etwa hatten 2011 rund 46 Prozent der | |
| Abiturienten eine Durchschnittsnote, die schlechter als 2,5 war. Heute kann | |
| man ein solches Abitur kaum noch „Hochschulzugangsberechtigung“ nennen. | |
| Es ist verrückt, dass viele Abiturienten heute auch deswegen auf einen | |
| Studienplatz warten müssen, weil ausgerechnet das Turbo-Abi, die Verkürzung | |
| der Schulzeit auf zwölf Jahre, den Universitäten doppelte Bewerberjahrgänge | |
| bescherte. Der Wegfall der Wehrpflicht sorgte zudem im Jahre 2011 für ein | |
| Bewerberhoch, das sich inzwischen allerdings wieder beruhigte. | |
| Dennoch ist die Zahl der Studienanfänger in diesem Jahr immer noch auf dem | |
| zweithöchsten Stand, der jemals registriert wurde. Das Internetportal | |
| [1][generation-g8.de] rechnet mit Verweis auf das Centrum für | |
| Hochschulentwicklung vor, dass im Jahre 2013 immerhin 102.531 Abiturienten | |
| ohne Studienplatz sein werden. | |
| Immer mehr Leute machen Abitur, aber das Angebot an Studienplätzen in den | |
| beliebten Fächern fängt den Andrang nicht auf. Damit entstehen biografische | |
| Brüche und Warteschleifen bei den Jüngeren. Die Problematik ist in der | |
| öffentlichen Diskussion noch nicht richtig angekommen. | |
| Es fängt damit an, dass es schon äußerst fragwürdig ist, wenn eine | |
| Abiturnote, im Alter von 18, 19 Jahren erworben, darüber entscheiden soll, | |
| ob ein junger Mensch ein Studium seiner Neigung beginnen kann oder sich mit | |
| Kompromissen zufriedengeben muss. Wo doch die Frage, ob man das „richtige“ | |
| Studium machen darf, oft über die Arbeitsmotivation für das ganze Leben | |
| entscheidet. Die „Selbstwirksamkeit“, das Gefühl, die Kontrolle über das | |
| eigene Leben zu haben, ist eine wichtige Ressource, die nicht beschädigt | |
| werden sollte. | |
| ## Berliner benachteiligt | |
| Hinzu kommen finanzielle Aspekte. Oft bevorzugen Abiturienten ein Studium | |
| in Nähe des Heimatortes, weil sich die Eltern keinen Auszug leisten können. | |
| Das bestätigt auch der von Bund und Ländern geförderte Bildungsbericht | |
| 2012. Dies erzeugt jedoch besonders in Berlin eine schräge Situation. | |
| Aufgrund der Beliebtheit der Stadt und des starken Bewerberandrangs von | |
| außerhalb herrschen an den Berliner Universitäten extrem strenge NCs. Nur | |
| ein Drittel der Studienplätze ist von gebürtigen Berlinern besetzt. Viele | |
| Eltern in der einkommensschwachen Hauptstadt können ihrem Nachwuchs kein | |
| Studium finanzieren, weil der Wegzug in eine andere Stadt für sie nicht | |
| bezahlbar ist. Verfassungsrechtlich ist dagegen kaum anzugehen. | |
| Vielen Schulabgängern bleibt wenig übrig, als auf die Anrechnung langer | |
| Wartezeiten zu setzen, bis endlich der begehrte Studienplatz ergattert ist. | |
| Manche Abiturienten beginnen zwischenzeitlich eine Berufsausbildung und | |
| verknappen damit das Lehrstellenangebot für junge Leute mit mittlerem | |
| Schulabschluss. | |
| Nun mag man argumentieren, eine Zeit der Überbrückung sei doch für 18- oder | |
| 19-Jährige keine Katastrophe. Schließlich fällt es vielen schwer, sich in | |
| dieser Lebensphase bereits für ein Studienfach zu entscheiden. Wenn man | |
| vielleicht am liebsten Event-Management studieren würde, weil dies der | |
| Partyexistenz entspricht. Oder Psychologie, weil man sowieso gerne über | |
| Befindlichkeiten redet. | |
| Das Problem dabei: Warteschleifen können Motivationen abtöten und kosten | |
| Geld. Damit hängt doch wieder vieles vom Portemonnaie der Eltern ab. Ein | |
| Bundesfreiwilligendienst im Pflegeheim, Englischunterricht für arme | |
| Bergkinder in Peru oder Schafe hüten in Australien: Mit diesen | |
| Überbrückungsphasen verdient man eher kein Geld, sondern braucht welches. | |
| ## Unfreiwillige Bummelei | |
| Über die Homepage des Internetportals G8, das den Studienplatzmangel | |
| beklagt, floaten in kleinen Bannern Werbungen für kostenpflichtige private | |
| Hochschulen und Universitäten im Ausland. Für ein Studium im EU-Ausland | |
| fallen aber meist höhere Kosten an als hierzulande. Kein Wunder, dass die | |
| Studierbereitschaft bei Studienberechtigten aus sogenannten bildungsfernen | |
| Elternhäusern abnimmt, wie eine Untersuchung zeigt. | |
| Die Politik braucht daher eine Antwort auf die Warteschleifen-Problematik. | |
| Das Angebot an Studienplätzen in angesagten Fächern sollte erweitert | |
| werden. Der Anteil der Qualifizierung, also der berufsbildenden Elemente, | |
| muss bei den Freiwilligendiensten aufgestockt werden, statt die jungen | |
| Leute als billige Arbeitskräfte in Pflegeheimen und Kitas auszunutzen. Die | |
| Landesregierungen sollten über einen Standortvorteil für Landeskinder an | |
| Heimatuniversitäten nachdenken. | |
| Einer in der abendliche Runde der Abiturienteneltern in Berlin will | |
| beruhigen: Ist doch vielleicht alles nicht so schlimm. Bei uns hat es | |
| früher auch länger gedauert! Stimmt. Aber das Bummelstudium mit Nebenjobs | |
| und Urlaubssemestern früher war freiwillig. Die Warterei der Jungen heute | |
| ist es vielerorts nicht. Das macht schon einen Unterschied. | |
| 3 Dec 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://generation-g8.de | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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