# taz.de -- Jobs für junge Wissenschaftler: Schnell und schmutzig | |
> In Deutschland gibt es kaum sichere und gut bezahlte Stellen für junge | |
> Wissenschaftler. Sie müssen sich von Projekt zu Projekt hangeln. | |
Bild: Schicker Hut: In der deutschen Forschung haben Nachwuchswissenschaftler w… | |
Sie könnte die Frau der Stunde sein. Doch Susen Engel, | |
Diplomsozialwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Stadtforschung, fühlt | |
sich alles andere als gefragt. Die Doktorandin musste in den vergangenen | |
fünf Jahren erleben, dass zwar ihre Forschungsergebnisse zur | |
Integrationspolitik in Klein- und Mittelstädten erwünscht sind – berufliche | |
Sicherheiten kann sie aber nicht erwarten: Im deutschen Wissenschaftssystem | |
geht es ziemlich prekär zu. | |
Vor ihrer Promotion, die sie 2011 mit einem Stipendium der | |
Hans-Böckler-Stiftung begann, war Engel an einem Leibniz-Institut im Land | |
Brandenburg angestellt. Über externe Fördergelder, „Drittmittel“, arbeite… | |
sie auf 20-Stunden Stellen, die mit den jeweiligen Forschungsprojekten | |
befristet waren. | |
Real seien es immer um die 30 Arbeitsstunden gewesen, sagt Engel, 10 | |
Stunden wöchentlich gingen auch für den Betriebsratsvorsitz drauf. | |
„Unmöglich, an die Promotion zu denken, wenn man so viel verdient wie | |
KassiererInnen an der Supermarktkasse“, sagt die Doktorandin. Neben der | |
Drittmittelstelle, für die sie im ersten Jahr 960 Euro netto bekam, ging | |
sie kellnern oder half in einer Anwaltskanzlei aus, um über die Runden zu | |
kommen. | |
Bevor sie sich mit dem Promotionsstipendium aus dieser Situation befreien | |
konnte, versuchte Engel weiter Drittmittelprojekte an Land zu ziehen: Nur | |
so hatte sie die Aussicht, am Leibniz-Institut zu bleiben und sich für eine | |
feste Anstellung zu empfehlen. | |
## Nach zwölf Jahren ist Schluss | |
Das Problem ist: Die Novelle des Hochschulrahmengesetzes von 2002 schreibt | |
vor, dass Doktoranden nur sechs Jahre vor und sechs Jahre nach ihrer | |
Promotion befristet angestellt werden dürfen. Danach ist Schluss mit Jobs | |
in der öffentlichen Forschung, für immer. | |
Das sollte bewirken, dass Nachwuchswissenschaftler nicht ewig auf | |
befristeten Stellen festhängen, wie es häufig der Fall war. Mit dieser | |
Zwölf-Jahres-Regel wollte die damalige Bildungsministerin Edelgard Bulmahn | |
(SPD) Druck aufbauen – auf die Nachwuchsforscher wie auf die | |
Forschungsinstitute, die gute Leute nicht verlieren wollen. | |
„Das ging total nach hinten los“, sagt Engel mit Blick auf die | |
Flexibilisierungspläne. Die Sozialwissenschaftlerin spielt damit auf eine | |
Regelung von 2007 an, welche die Novelle von 2002 ergänzen sollte: das | |
Wissenschaftszeitvertragsgesetz. | |
Es erlaubt den Forschungseinrichtungen, wissenschaftliche Mitarbeiter auch | |
länger als zwölf Jahre befristet anzustellen – über Drittmittelprojekte. | |
„Für dich als wissenschaftlichen Mitarbeiter bedeutet dies das Risiko, | |
lebenslänglich über Drittmittelprojekte gehalten zu werden“, sagt Engel. | |
„Mit 40 Jahren hast du dann noch immer den Status eines | |
Nachwuchswissenschaftlers.“ | |
## 83 Prozent sind befristet angestellt | |
Heute sind bundesweit 83 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter im | |
öffentlichen Bereich befristet angestellt, vor den Gesetzesnovellen waren | |
es 74 Prozent. Die staatlichen Mittel, die attraktive Stellen unterhalb der | |
Professorenebene finanzieren könnten, sind in Fördertöpfe für | |
Drittmittelprojekte gewandert. Zwischen 1995 und 2010 nahm die | |
Drittmittelquote an deutschen Hochschulen laut Statistischem Bundesamt von | |
14,5 auf 26 Prozent zu, knapp 70 Prozent davon sind öffentliche Gelder. | |
Wissenschaftliche Mitarbeiter, die mit diesen Mitteln angestellt sind, | |
arbeiten meist unter prekären Bedingungen: „Das aktuelle Projekt bearbeiten | |
und dabei schon die nächsten an Land ziehen – das ist heute schon fast die | |
Regel für diese Kräfte“, sagt Sven Binkowski. Der Arbeitswissenschaftler | |
ist Mittelbauvertreter im Senat der Brandenburgischen Technischen | |
Universität Cottbus und hat gemeinsam mit Kollegen aus der Region einen | |
offenen Brief an die Landesregierung geschrieben. | |
Die Initiative „Uni braucht Mittelbau“ fordert, den Universitäten wieder | |
mehr feste Stellen zuzugestehen. An Binkowskis Universität sind 89 Prozent | |
der wissenschaftlichen Mitarbeiter befristet angestellt, vor allem von | |
Kollegen auf Drittmittelstellen aus der Industrie hört Binkowski von | |
Vertragslaufzeiten von einem bis drei Monaten. „Diese Mitarbeiter sind | |
nicht an die Lehrstühle gebunden, für die Forschungsarbeit ergibt sich da | |
ein gewisser Legionärseffekt“, sagt Binkowski. | |
Susen Engel erfuhr am Brandenburger Leibniz-Institut am eigenen Leib, nach | |
welchen Kriterien die Chefs der Forschungseinrichtungen die wenigen festen | |
Stellen vergeben: Wie erfolgreich akquirieren Angestellte Drittmittel? Und | |
wie viele Artikel veröffentlichen sie in Peer-Review-Publikationen, also in | |
Wissenschaftsmagazinen, bei denen Gutachter die Artikel überprüfen? „Das | |
baut Druck auf, einen Zwang, nach dem Prinzip quick and dirty dauernd | |
aktuelle Themen zu bearbeiten“, sagt Engel. „Das hält einen teilweise von | |
wirklich neuen Erkenntnissen ab.“ | |
## Keine Perspektive im deutschen Unisystem | |
Im Bereich des Völkerrechts und der Politikwissenschaft allgemein habe man | |
ohne die richtigen Publikationen keine Chance, sagt Cindy Daase. Selbst | |
wenn es um weniger als eine feste Stelle gehe. Die Doktorandin, die gerade | |
in den Endzügen ihrer Promotion im Völkerrecht an der Freien Universität | |
Berlin steckt, sagt: „Review-Artikel sind da einfach entscheidend, andere | |
Bewertungkriterien werden kaum beachtet.“ | |
In Deutschland hätte die 31-Jährige auch auf mittlere Sicht keine andere | |
Perspektive als befristete Projektstellen. Sie ist keine Volljuristin, nach | |
ihrem Magisterabschluss in Osteuropastudien promoviert sie nur am | |
Fachbereich. Auf so viel Interdisziplinarität ist das deutsche | |
Universitätssystem nicht ausgelegt, die juristischen Fakultäten hier würden | |
keine Person auf einer Habilitationsstelle oder Juniorprofessur anstellen, | |
die das erste Staatsexamen nicht hat. | |
Daase überlegt sich immer wieder: „Soll ich die deutsche Ochsentour gehen, | |
durch viele unsichere Projektverträge, bis ich jemanden überzeugt habe und | |
irgendwo dauerhaft unterkomme? Oder gehe ich lieber ins Ausland?“ Daase | |
zieht es nach Großbritannien, in die USA oder in die Niederlande. | |
In diesen Ländern werden nicht nur Abschlüsse flexibler anerkannt und | |
Interdisziplinarität geschätzt, dort wird auch das so genannte | |
Tenure-Modell umgesetzt. In Großbritannien und Holland berechtigt die | |
Berufung auf eine Stelle als Lecturer – vergleichbar mit der hiesigen | |
Juniorprofessur oder einer Dozentenstelle – zu selbständiger Lehre und | |
Forschung. | |
## Erst ausbilden, dann wegschicken | |
Laut Reinhard Kreckel, ehemaliger Leiter des Instituts für | |
Hochschulforschung Halle-Wittenberg, ist es dort üblich, das | |
wissenschaftliche Personal nach kurzer Probezeit unbefristet als | |
Hochschullehrer anzustellen. Dafür steht der Begriff Tenure. „Diese Länder | |
stehen Deutschland in der Forschung in nichts nach, obwohl oder vielleicht | |
gerade weil sie jungen Menschen Perspektiven innerhalb des | |
Wissenschaftsapparates bieten“, sagt Kreckel. | |
Der Hochschulforscher kritisiert: „Kein anderer vergleichbarer | |
Forschungsstandort hat so wenige attraktive Stellen im Mittelbau wie | |
Deutschland.“ Während in den USA, Frankreich, Großbritannien, der Schweiz | |
und Österreich zwischen 13 (Schweiz) und 40 (Frankreich) Prozent der | |
Universitätsangestellten im oberen Mittelbau arbeiten, sind es in | |
Deutschland gerade mal 2 Prozent. | |
Darüber wundern sich sogar ausländische Beobachter: „Ein englischer Kollege | |
fragte mich mal, warum uns der deutsche Staat eine doch sehr gute | |
akademische Ausbildung finanziert, um uns dann ziehen zu lassen“, erzählt | |
Cindy Daase. | |
Kreckel glaubt, dass ein breiterer Mittelbau mit mehr selbständig | |
forschenden und lehrenden Kräften für die Universitäten der einzige Weg | |
ist, die Herausforderungen der kommenden Jahre zu meistern: größere | |
Studierendenzahlen und internationale Konkurrenz um Fördergelder und | |
Fachkräfte. | |
## Falsche Anreize sollen bleiben | |
Momentan jedenfalls ist es für Nachwuchswissenschaftler nicht attraktiv, in | |
Deutschland zu bleiben. Auch Cindy Daase ist sich ziemlich sicher, dass sie | |
ins Ausland gehen wird. „Manchmal habe ich ein flaues Gefühl im Bauch, wenn | |
ich an die Perspektiven denke, die ich in meinem Berufsfeld hier habe.“ | |
Die Sozialwissenschaftlerin Susen Engel sieht ihre Situation dagegen | |
mittlerweile pragmatisch. Sie macht sich kaum Hoffnung, nach ihrer | |
Promotion eine der begehrten Juniorprofessuren oder eine unbefristete | |
Stelle an einer Universität zu ergattern. „Dazu müsste das | |
Wissenschaftszeitvertragsgesetz abgeschafft werden, damit sich die falschen | |
Anreize zurückbilden – und das wird nicht geschehen.“ | |
Tatsächlich schreibt das Forschungsministerium auf Anfrage, es bestehe kein | |
gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Sprich: Jede Universitäte und nicht | |
zuletzt jeder Wissenschaftler sei selbst verantwortlich. Engel will sich | |
deshalb in die selbständige Politikberatung oder in den | |
privatwirtschaftlichen Bereich orientieren. Vielleicht ist ihre | |
interkulturelle Kompetenz ja dort gefragt. | |
29 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Karen Grass | |
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