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# taz.de -- Schlagloch NSU-Ermittlungen: Das Jahr der Handtaschennazis
> Ein Jahr voller NSU-Pannenmeldungen und Gesülze der Verantwortlichen:
> 2012 ist das Jahr, in dem ich den Glauben an den deutschen Rechtsstaat
> verlor.
Bild: Wo selbst die Akten hinter Gitter kommen: NSU-Ausschuss.
Manche Jahre tragen Signaturen. 1989 zum Beispiel wird für viele Deutsche
immer das Jahr des Mauerfalls sein, 2001 für einen Gutteil der Welt das
Jahr von „Nine Eleven“. Und 2012 ist in meiner Zählweise – aber sicher
nicht nur in meiner – das Jahr, in dem ich den Glauben an Deutschland als
funktionierenden Rechtsstaat verlor.
Nicht dass sich dieser Glauben je bis zur Euphorie gesteigert hätte. Aber
es gab doch einige Punkte, die schienen bei uns ganz gut geregelt. Die
deutsche Justiz mochte nicht perfekt sein, doch unter den fairsten der
Welt. Auch deutsche Polizisten misshandelten bisweilen, aber man konnte
sagen: Fehler passieren überall einmal. Und wenn ich die Wahl hätte, in
einem deutschen oder einem französischen Gefängnis einsitzen zu müssen,
dann nähme ich immer noch lieber das deutsche. Das Ganze war also nicht
ideal, schien aber vom Prinzip her auf dem richtigen Weg.
Doch nach der Dauerbeschallung mit „Pannenmeldungen“ zur NSU in diesem
Jahr, jede Woche etwas Neues zum Haaresträuben, fragt man sich allmählich,
ob es überhaupt so etwas gibt wie einen anvisierten Weg und ein
planerisches Konzept im deutschen Polizei-, Überwachungs- und
Nazidschungel. Ich brauche das alles nicht zu wiederholen. Wir haben uns ja
schon völlig daran gewöhnt, dass unsere Sicherheitsapparate in einem fort
versagen, wegsehen, die falsche Seite unterstützen oder sonst wie, jeder
nach seinen Möglichkeiten, zur allgemeinen Gefahrenlage beitragen.
Kürzlich hörte ich im Autoradio, dass in New York irgendwelche Polizeiakten
zu Konfetti verarbeitet und während einer Parade ausgestreut worden waren.
Früher hätte ich gelacht über so viel Blödheit, jetzt aber schrak ich auf
und dachte: Hoppla, das haben unsere Geheimdienste noch gar nicht gemacht!
Wieso ist unser MAD nicht drauf gekommen – zu mad vielleicht? Man kann den
Gedanken kaum fassen, dass ein anderes Land auf dem Gebiet der Polizei- und
Geheimdienstpannen mal eine Idee gehabt haben soll, auf der nicht Made in
Germany stand.
## Erst Ausländer hauen, dann Handtaschen klauen
Aber ich sollte keine Witze darüber machen, dafür ist die Sache zu ernst.
Das Problem ist bloß: Ich kann das alles einfach nicht mehr ernst nehmen –
all das legitimierende, entschuldigende Gesülze. Das staatliche
Gewaltmonopol ist ein heikles, aber in einem modernen Staat vermutlich
unverzichtbares Konstrukt. Und der gewaltigen Legitimationslast dieses
Konstruktes müssen Kompetenzen, Verantwortungen und Kontrollmechanismen
entsprechen. Das sehe ich nicht. Das sieht wohl niemand mehr, der 2012, dem
Jahr schwindenden Vertrauens, die Meldungen zur Zwickauer Zelle verfolgt
hat.
Und wir erlebten ja nicht nur ein Jahr grotesken Versagens unserer
Sicherheitseinrichtungen, sondern auch eine nicht enden wollende Kette des
Im-Stich-gelassen-Werdens. „Wir“ heißt jetzt mal: Wir mit dem migrantischen
Hintergrund. Wir mit Teint. Wir werden nicht genug beschützt.
Ende November stellte der NRW-Innenminister Ralf Jäger die
Kriminalstatistiken zu Rechtsextremismus vor und legte dar, dass Nazis
außer spezifisch rechtsextremen Delikten auch andere begingen. Dabei wählte
er die aussagekräftige Formulierung: „Das zeigt, dass Rechtsextremisten
eine Gefahr für unsere gesamte Gesellschaft sind. Heute verprügelt ein
Neonazi einen Ausländer, morgen stiehlt er einer alten Frau die
Handtasche.“
Man beachte dreierlei: erstens das Wort „Ausländer“. Zweitens den Schluss,
dass Nazis erst, indem sie auch Nicht-„Ausländer“ bedrohen, eine
gesamtgesellschaftliche Gefahr würden. Drittens die mit dieser Reihenfolge
ausgedrückte implizite Wertung. Wer heute bloß Ausländer verprügelt,
stiehlt morgen vielleicht eingeborene Handtaschen!
## Nazis? Ach was, Messingdiebe!
Von dem Pressesprecher des Ministeriums erfuhr ich am Telefon, das sei
„nicht so gemeint“ gewesen, sondern man habe ja nur so argumentiert, weil
„an den Stammtischen“ so gedacht werde. Und diesen Leuten wolle man eben
zeigen, dass „Nazis nicht nur politisch sind, sondern auch kriminell“.
(Meine Nachfrage, ob Körperverletzung nicht auch kriminell sei, bejahte er
allerdings sofort.)
Kürzlich wurde hier in der Nähe ein Nazi verprügelt. Die berichtende
Lokalreporterin war völlig schockiert: „Wenn solche Dinge Schule machen!“
Nun, auch ich bin gegen das Verprügeln von Nazis (außer in Notwehr).
Allerdings würde ich mir wünschen, dass mehr Reporter ihr Augenmerk darauf
richten, dass kein Tag vergeht, an dem nicht jemand von einem Nazi
geschlagen, bespuckt oder rassistisch verhöhnt wird. Das Verprügeln von
Menschen durch Nazis hat längst „Schule gemacht“!
Verblüffend auch, wie schnell sich in solch einem Fall klären lässt, dass
es sich sozusagen um politisches Verprügeln gehandelt hat – also wenn das
Opfer ein Nazi war. Umgekehrt ist es viel schwieriger. Wenn Nazis
Schweineblut vor Moscheen ausschütten oder Stolpersteine aus dem Pflaster
brechen, ist das nämlich erst einmal nur Sachbeschädigung oder Diebstahl.
Die Gesinnung ist da gaaanz schwer nachzuweisen. Ich sprach mit der
erwähnten Lokalreporterin, erzählte von den Stolpersteinen. Sie fragte:
„Woraus sind die denn – aus Messing? Vielleicht haben sie es deswegen
gemacht!“
Und dennoch gab es in den letzten Monaten einiges, was mich sehr berührte.
Da marschierten Flüchtlinge nach Berlin, campierten bei Wind und Wetter vor
dem Brandenburger Tor. Traten in Hungerstreik, demonstrierten für
Grundrechte, die sie nach jetziger Rechtslage nicht haben. Rechtlos,
Rechtloser, Flüchtling in Deutschland. Die Polizei hat ihnen, salopp
gesagt, die Matratzen unterm Hintern geklaut. Ihnen den Wärmebus
abgestellt.
Es war ein ständiges Theater aus Grotesken und Schikanen, aber über sechs
Wochen haben die Protestierenden durchgehalten. Ausgerechnet sie besitzen
anscheinend, was viele andere dieses Jahr verloren: den Glauben, dass die
Bundesrepublik noch ein vernünftigen Argumenten zugänglicher,
demokratischer Rechtsstaat ist.
12 Dec 2012
## AUTOREN
Hilal Sezgin
Hilal Sezgin
## TAGS
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Ermittlungsfehler
Polizei
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Schwerpunkt Rechter Terror
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