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# taz.de -- Neues Album der Band Neurosis: Die Launen der anderen Natur
> Die kalifornische Krachband Neurosis lebt in einem Paralleluniversum. Auf
> ihrem neuen Album „Honour found in Decay“ suhlen sie sich in Finsternis.
Bild: Ein gewaltiges Gebilde: Die kalifornische Band Neurosis.
Es ist früh am Morgen im US-Bundesstaat Idaho, 7.30 Uhr. Um diese Uhrzeit
stört man nicht gern. Vorsichtiges Anklopfen über den Skype-Button, kurz
darauf ertönt eine brummig-sonore Stimme. Dann ein Kaffeeschlürfen.
„Sorry“, sagt Steve van Till. Er sitzt gerade irgendwo im Hinterland von
Coeur d’Alene, der größten Stadt im Norden von Idaho, das an den
pazifischen Nordwesten der USA angrenzt.
Dort lebt van Till mit Frau und Kindern in einem kleinen Häuschen in den
Wäldern, zurückgezogen, wie er sagt. „Mein Alltag hier“, sagt er und hält
inne, „das ist alles ein schönes, großes Gebilde.“ Das Gebilde, für das …
Till darüber hinaus steht, ist ganz anderer Natur.
Bekannt ist van Till als Sänger und Gitarrist der kalifornischen Band
Neurosis. Es ist ein gewaltiges Gebilde, dessen Sound man wohl eher mit den
finstersten Ecken im morschen Unterholz assoziieren würde. Daran hat sich
auch auf dem elften Studioalbum, „Honor found in Decay“, nichts geändert.
Vor Kurzem ist es erschienen, Steve Albini hat es – wie alle
vorangegangenen Alben – produziert. Über einer wuchtigen,
metallisch-dronigen Klangfläche thront da van Tills und Scott Kellys
Crust-/Grind-Gesang. Sie krächzen wie eh und je und klingen dabei abartig
fies und böse. Eben unglaublich gut.
## Gewaltiges Gebilde
Neurosis, das ist ein seit 1985 bestehendes Paralleluniversum, es lohnt
unbedingt einen zweiten Blick. Weniger, weil die fünfköpfige Band zunehmend
Stile wie Metal, Hardcore, Sludge, Ambient, Industrial miteinander
verschmolzen hat, eher, weil sie genau deshalb in keiner und in jeder Szene
zu Hause waren – am ehesten noch bei den Verzinkteren unter den Metallern.
„Wir selbst sehen uns als Punks“, sagt van Till, „aus diesem Kontext komm…
wir, das Punkprinzip des Do-it-Yourself war und ist uns sehr wichtig.“ Die
Band führt mit Neurot Recordings ein eigenes Label, auf dem seit 2004
sämtliche Projekte aller Bandmitglieder veröffentlicht werden. „Wir haben
künstlerische Kontrolle über alles, was wir tun, von der Musik bis zum
Artwork.“
Bis heute ist für Neurosis der Kollektivgedanke wichtig. Für Künstler-Egos
oder Manierismen lässt die Band keinen Raum. Van Till sagt Sätze wie:
„Neurosis ist viel größer als jeder Einzelne von uns.“ Das kollektive
Aufgehen im Klang: Van Till scheint der Musik ihre Magie lassen zu wollen,
wenigstens ein bisschen. Die sechs Individuen fänden sich gleichermaßen im
Neurosis-Sound wieder, wichtiger aber sei das, was im Zusammenspiel
entsteht.
Man erzählt sich von Neurosis, dass sie gemeinsam als Kommune gestartet
seien. „Das behaupten nur Leute, die die Vergangenheit unnötig
glorifizieren wollen“, korrigiert van Till streng. Wie der Neurosis-Sound
sich entwickelte? In etwa so: Am Anfang war Black Sabbath, dann kam lange
gar nichts, dann kam Punk. So in etwa dürfte die Musikgeschichte lauten,
wäre sie von Neurosis geschrieben worden.
## Hirnschmerz
„Pain of Mind“, ihr Debütalbum, liegt ein Vierteljahrhundert zurück. Es
klingt in der Tat wie ein Bastard aus Punk, Metal und Grindcore. „Wir haben
immer danach gesucht, was der extremste, der tiefste, der härteste Ausdruck
für unsere Gefühle sein könnte“, sagt van Till.
Das Frühwerk erschien auf Alternative Tentacles, dem Label von
Dead-Kennedys-Sänger Jello Biafra. Der Zweitling „The Word As Law“ auf
Lookout! Records, das überwiegend für Poppunk-Veröffentlichungen stand und
die Band Green Day berühmt machte. Mit „Through Silver in Blood“ landete
Neurosis 1996 auf Relapse Records, einem Label, das experimentellere
Spielarten von Metal bevorzugte. Entsprechend wandelte sich jeweils auch
der Bandsound.
Zunächst hatte man noch viel mit Hardcore-/Grindbands gemein. Spätestens
Mitte der Neunziger klangen Neurosis-Songs doomiger. „Wir hatten damals
Industrial-Bands wie Throbbing Gristle entdeckt, die die Scheiße aus uns
rausprügeln, dadurch kamen noch mal ganz andere Einflüsse dazu.“
Neurosis prügelten fortan die Scheiße aus sich, aus allem heraus. „Honour
found in Decay“, der neueste Albumtitel, spiegelt diese düstere Motivik der
Band wider. Der Auftaktsong beginnt mit den Versen: „I’ll walk into the
water / To wash the blood from my feet.“ Die in Oakland gegründete Band
reitet beeindruckend stur auf ihren Sujets herum, hier etwa das Aufgehen in
Verfallszuständen, um ein besseres Dasein zu erreichen – das in der
menschlichen Gesellschaft ohne Weiteres nicht zu erreichen ist.
## Die Kraft im Düsteren
Häufig wird bei Neurosis auch ein Selbstmordmotiv angedeutet. Es erinnert
an die Abhandlungen Jean Amérys über den Suizid: „Selbstmörder ist man
lange bevor man sich umbringt.“ Bei Neurosis heißt es: „Death was my first
companion / It showed me life and it snuffed it out.“ Ihre Texte sind
zutiefst existenzialistisch, wobei sie oft religiöse Symbolistik verwenden,
um „die tiefen Konflikte der Menschheit zu spiegeln“, sagt van Till.
Mit den Soloprojekten der Bandmitglieder verhält es sich ähnlich: „Die
Atmosphäre ist vergleichbar.“ Steve van Till spielt unter eigenem Namen
oder unter dem Pseudonym Harvestman wahlweise ruhige oder sphärische
Drone-Musik. Zusammen mit Scott Kelly hat er jüngst auch Songs des
US-Singer-Songwriters Townes van Zandt gecovert. Kelly ist ebenfalls auf
Solopfaden unterwegs. Warum der Sound bei ihnen stets düster und
verzweifelt klingt?
„Finde ich gar nicht, im Gegenteil, im Düsteren steckt nicht nur
Verzweiflung, sondern auch sehr viel positive Kraft. Ich glaube, wir finden
darin Katharsis.“ Wenn van Till das sagt, klingt es kein Iota esoterisch.
Auch in den Wäldern Idahos will er etwas aufgespürt haben, „das echt ist
und zum Greifen nah“. Van Till hat den Launen der Natur also den Vorzug
gegeben, vor den Launen der Menschen – seine Lebenswelt ist eher die der
Abgeschiedenheit.
## Schule und Metaller-Zausel
„Humans created Bullshit“, sagt er mit Nachdruck, wieder laut am Pott
Kaffee schlürfend, als hätte er dies gerade als Raison d’être groß an sei…
Hauswand gepinselt.
Erstaunlich, aber van Till arbeitet als Lehrer in einer nahe gelegenen
Stadt. Er empfindet es nicht als Spagat, vor einer Horde Schüler zu stehen
und am nächsten Tag vor einer Meute Metaller-Zauseln aufzutreten. „Für mich
ist das alles eins“, sagt er, „unser Krach soll Leuten helfen, Balance im
Leben zu finden, genauso sollte ich als guter Lehrer meinen Schülern
helfen, Balance zu finden.“
Kurz nach dem Interview beginnt für Steve van Till ein Wochenendtag nahe
der kanadischen Grenze. Er wird viel Zeit haben, um mit Kindern und Frau
durch den Wald zu wandern.
14 Dec 2012
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Metal
Kalifornien
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