# taz.de -- Musikfestival Rencontres Transmusicales: Die Zukunft beginnt Freita… | |
> Frankreich schaut nach Rennes: Beim Festival Rencontres Transmusicales | |
> gibt es feinsten afrobritischen Pop, Altstars des Raï und House-Duos aus | |
> den USA. | |
Bild: Lianne La Havas fesselte mit Wechseln zwischen Coolness und Melodramatik … | |
Wenn alle Stricke reißen, essen geht immer. Zumindest beim Team von Black | |
Food Tempo. Zuerst existierte unter dem fast identischen Namen Black Foot | |
Tempo ein Reggae-Soundsystem, das über seine Heimatstadt Rennes hinaus | |
bekannt war. Die musikalischen Kenntnisse wurden Mitte der Neunziger in | |
einen Plattenladen investiert. Inzwischen ist daraus ein Imbiss mit | |
jamaikanischem Essen geworden. | |
Anders als Musik lässt sich Nahrung nämlich nicht kostenlos aus dem Netz | |
runtersaugen. Patties – Teigtaschen mit Kichererbsenmehl, Fischbällchen und | |
andere karibische Spezialitäten laufen gut und schmecken vorzüglich. | |
Ins Black Food Tempo lud am Donnerstag das Festival Rencontres | |
Transmusicales zum „Meet & Greet“ ins französische Rennes ein. | |
Booking-Agenten, Autoren und Online-TV-Macher aus Glasgow, Hamburg oder | |
London haben sich in der Bretagne eingefunden. | |
Denn hier treten viele Künstler auf, bevor sie kommendes Jahr auf | |
Europatour gehen. Das Internet erregt auch hier die Gemüter. Schwindende | |
Einnahmen von Künstlern? Dave, Mitarbeiter des britischen | |
Internetmusikmagazins The Quietus, lächelt müde und berichtet, dass seine | |
Publikation von drei Leuten betreut wird. Während die Site mit | |
Onlineticketverkäufen und Werbung alimentiert sei, braucht er einen | |
zusätzlichen Job zum Geldverdienen. | |
## Hinterherhinkende Menschenkörper | |
Schreiben wir bald nur noch für Suchmaschinen und ihre „Keyword Density“? | |
Robert Helbig aus Jena, Schüler des Soziologen Hartmut Rosa und einer der | |
Betreiber des elektronischen Kulturmagazins Nothingbuthopeandfashion, | |
möchte das vermeiden. An seinem eigenen Projekt sind inzwischen 17 Personen | |
beteiligt und wechseln sich bei den Zuständigkeiten ab. | |
Helbig steckt 20 bis 30 Stunden Zeit pro Woche in die Aktualisierung seiner | |
Homepage. Die hat er übrig, weil ihm sein Job an der Uni Freiheiten lässt. | |
Wir unterhalten uns über die Überforderung im Zeitalter permanenter | |
Updates, bei dem Menschenkörper hinterherhinken, während die Maschinen auf | |
den neuesten Stand gebracht werden. | |
Auch Zuschauer in Rennes schauen selbst in den spannendsten Konzertmomenten | |
auf ihre Handydisplays. „Hello?“, fragt Lianne La Havas sarkastisch von der | |
Bühne herunter, wo zwischen zwei Songs während ihres Sets ein Handy im | |
Publikum der Konzerthalle La Cité klingelt. | |
Im La Cité werden traditionell ausländische Talente präsentiert. Die | |
Zuschauer wissen das am späten Freitagnachmittag zu schätzen, der Laden ist | |
gefüllt, Bier und Cidre fließen in Strömen. So gestisch-imposant wie die | |
22-jährige La Havas ihr fiktives Handy ans Ohr drückt, ist auch ihre | |
Frisur: eine Monsterwelle aus Locken, die der Haarpracht einer | |
Hollywood-Diva aus den Dreißigern in nichts nachsteht. | |
## Frequenz der Stimmungsumschwünge | |
Musikalisch hat die afrobritische Gitarristin und Sängerin wenig mit den | |
Formen von Vergangenheit zu tun. Am stärksten merkt man La Havas die | |
Gegenwart an der Frequenz der Stimmungsumschwünge an. Träge gondelt ein | |
Lovesong, ein kurz angespieltes Riff auf ihrer Gretsch-Gitarre fährt | |
dazwischen, schon befinden wir uns im nächsten Lied, einem Fetzer in | |
uptempo. | |
Selbstbewusst stellt La Havas ihre folkigen Soulsongs aus. Ihre Mischung | |
aus Coolness und Melodramatik, aus Flow und abrupten Wechseln funktioniert. | |
Ihre Stimme klingt gefasst, spart Pathos weitgehend aus, weil sie | |
fantastisch klingt – geschmeidig mit großem G. | |
Das kann man von Rachid Taha nicht sagen. Im Entertainer-Outfit, weißem | |
Hemd, schwarzer Hose, Schlips und Hütchen, kommt der Elsässer mit | |
algerischen Wurzeln auf eine der drei großen Bühnen auf dem Messegelände | |
Expo. Beim Singen biegt sich sein Körper wie eine von Sturm zerzauste | |
Eiche. Den Drogen hat der 54-Jährige wieder entsagt, so scheint es. | |
Mit seiner Stimme hat er zu kämpfen, stürzt bei den Gesangsgirlanden ab, | |
die charakteristisch sind für den algerischen Popstil Raï, den er in | |
Frankreich populär gemacht hat. Taha hat Raï schon immer mit anderen | |
Popstilen gekreuzt. Sein neues Album wurde von Brian Eno produziert, und er | |
lässt sich ohne größeres Aufsehen vom The-Clash-Gitarristen Mick Jones | |
begleiten. | |
## „Should I stay or should I go“ | |
Alt geworden auch er, seine Punkriffs vertragen sich aber mit den | |
Raï-Elementen. Und die alte Clash-Nummer „Rock the Casbah“ macht in dieser | |
Kombination plötzlich wieder Sinn. Dass als Zugabe auch noch „Should I stay | |
or should I go“ angestimmt wird, bringt die 10.000 Zuschauer in der | |
riesigen Halle zum Jubeln. | |
Taha war 1981 zum ersten Mal als Gast in Rennes. Wie damals wird das | |
Festival „Transmusicales“ auch in seiner 34. Ausgabe von Jean-Louis | |
Brossard und seiner Lebensgefährtin Béatrice Macé geleitet. Sie können die | |
drei opulenten Konzerttage mit Unterstützung der öffentlichen Hand | |
finanzieren. Niedrige Eintrittspreise sind somit garantiert. Dass ganz | |
Frankreich für ein verlängertes Wochenende in die Provinz schaut, liegt | |
auch an Brossards geschmackvoller Auswahl an bekannten Acts und seinem | |
Riecher für Talente. | |
Wie er auf The Miracles Club kam, bleibt sein Geheimnis. Das House-Duo von | |
der US-Westküste hat erst eine Handvoll Maxis veröffentlicht und einige | |
Mixe auf Blogs gestreut. Am kommenden Samstag treten sie zum ersten Mal in | |
Berlin auf. Wenn man sie nach ihrem Faible für Deephouse fragt, erzählen | |
Honey Owens und Rafael Faura von psychedelischen Erfahrungen mit der Musik | |
von 808 State, von den großen Stimmen des Gospelhouse, die sie nachhaltig | |
beeinflusst haben. | |
Ihr DJ-Set in Rennes ist eine dramaturgische Meisterleistung aus | |
kampfeslustigem, Drum-getriebenem House, brandneuen Undergroundtracks und | |
Evergreens. Ihre eigenen Tracks transportieren, ohne zu verniedlichen oder | |
zu verklären, die ruhmreiche Popvergangenheit des House in die Jetztzeit. | |
## Menschen mutieren zu Klapperschlangen | |
Die Zukunft klingt Freitagnacht gegen halb drei an, als der | |
frankokanadische Dubstep-Produzent Sinjin Hawke zum Sturm auf die Bastille | |
bläst: mit Wobble-Bässen, die Herztöne nachahmen, und grellem | |
Keyboard-Zischen, zentnerschweren Beats in Superzeitlupe und verfremdeten | |
Stimmfetzen. Menschen mutieren bei der Bassmusik des 21-Jährigen zu | |
Klapperschlangen, und es riecht auf dem Dancefloor bald, als würde ein | |
ganzes Marihuana-Feld abgefackelt. | |
Nüchtern ist das Konzert des französischen Projekts Aufgang am | |
Samstagnachmittag. Zwei Pianisten und ein motorisch hochbegabter Drummer | |
fusionieren Krautrock mit Klavieretüden. | |
Auch in Frankreich gilt Krautrock seit Längerem als Gütesiegel progressiver | |
Hipness, ersichtlich etwa am Bandnamen Aufgang. Was durch den Schlagzeuger, | |
der im 4/4-Takt wie an der Schnur gezogen rudert, bereits übererfüllt ist, | |
pulverisieren die streberhaften Dauer-Divertimenti der beiden Pianisten | |
leider auf effekthascherische Weise. | |
Herrlich schludrig und weniger aufdringlich erscheint wenig später der | |
Londoner Kwesy Say alias Kwes. Zusammen mit einer Schlagzeugerin und einer | |
Keyboarderin gleitet er sich schlafwandlerisch durch karge Songs. Da ist | |
die gutturale Stimme von Kwes, die Halt gibt, wenn die Instrumentalparts | |
auseinanderdriften. Da ist die entspannte Ausstrahlung des 24-Jährigen mit | |
der Bommelmütze, die ihn selbst in Momenten, in denen auf der Bühne etwas | |
Schlendrian einkehrt, Ruhe bewahren lässt. Und man hört die die | |
spannendsten, weil minimalsten Keyboard-Melodien seit Langem. | |
Aus dem Vollen des Barockpop schöpft die Französin Melody Brochet, die mit | |
ihrem Bandprojekt Melody’s Echo Chamber Samstagabend in der Halle 3 auf dem | |
Expogelände spielt. Man wähnt sich im Swinging London von Antonionis „Blow | |
Up“, wäre da nicht der Kameraroboter des Fernsehsenders Arte, der vor der | |
Bühne hin und her schwenkt und einen aus der psychedelischen Zeitschleife | |
in die mediale Gegenwart zurückholt. | |
Nicht zu vergessen die zigtausend Fans, die mit Fortschreiten der Nacht | |
richtig renitent werden. Gemeinsam mit den Medienvertretern werden sie dann | |
später mit den Shuttle-Bussen wieder in die Innenstadt zurückgekarrt. | |
12 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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