| # taz.de -- Wiedersehen nach dem Bürgerkrieg: Die Macker von der Adria | |
| > Sommer, Sonne, Adria: Auch die schönste Kulisse kann die tragischen | |
| > Geschichten in den Biografien aller Exjugoslawen Mitte dreißig nicht | |
| > verbergen. | |
| Bild: Die Konoba. | |
| Die alte, klapprige Schwiegermutter schimpft von der Terrasse: „Das ist die | |
| Strafe Gottes. Nur Saufen, huren und nicht arbeiten. Wenn der Vater noch | |
| leben würde, hätte er dich Nichtsnutz längst aus dem Haus geprügelt.“ | |
| „Halts Maul“, ruft der Schwiegersohn, der in der Mittagshitze Bier trinkend | |
| unter der Terrasse des alten Steinhauses sitzt und aufs Meer stiert. | |
| Kürzlich wurde sein linkes Bein amputiert. | |
| Neben ihm sitzt der Nachbar. Er ist auf Psychopharmaka und nuschelt: „Halt | |
| den Mund!“ Da stürmt der Sohn des Beinamputierten auf die Straße und ruft: | |
| „Leck mich!“ Seine Mutter rennt ihm mit einem Stock hinterher und brüllt: | |
| „Ich bring dich um.“ Ein braungebrannter Dorffremder rudert mit seinem | |
| Gummiboot vor dem Strand entlang. Das silberne Hakenkreuz, das er um den | |
| Hals trägt, blitzt in der Sonne. | |
| Luka, der aus dem zweiten Eingang des Steinhauses kommt, trägt an der | |
| gleichen Stelle ein goldenes Christuskreuz. Er hat die „Konoba“, den | |
| ebenerdigen, traditionell dalmatinischen Weinkeller des kleinen Steinhauses | |
| gemietet und daraus ein Fischrestaurant gemacht. Bevor er sich mit einem | |
| Glas Wein zwei Meter neben das Holzbank-Duo setzt, dreht er für die Gäste, | |
| die vor dem Haus unter schattigen Palmen sitzen, die Musik lauter: Chet | |
| Baker „Let’s get lost“. | |
| In diese Idylle kommt am Nachmittag Sascha. Aus Belgrad. Es ist Frühsommer | |
| 2011. Luka hat Sascha 1991 zum letzten Mal gesehen. Da waren sie 16, lebten | |
| in der Hafenstadt Split, waren dicke Freunde, kleine Adria-Macker. Doch | |
| mitten in ihren besten Teenagerjahren löst sich der Staat Jugoslawien auf. | |
| Bevor es blutig wird, ziehen Saschas Eltern, die aus Serbien stammen, mit | |
| ihren Kindern nach Belgrad. | |
| Bei Facebook sind sich Luka und Sascha wiederbegegnet. Sascha ist Koch. | |
| Luka bietet ihm an, den Sommer als Chefkoch in seinem Restaurant zu | |
| arbeiten. Sascha hat für sich und seine Familie eine Aufenthaltsgenehmigung | |
| für Australien beantragt. Nach 20 Jahren an die kroatische Adria | |
| zurückehren, den letzten Sommer auf dem Balkan mit einem alten Freund | |
| verbringen? Sascha sagt zu. | |
| ## Der letzte Balkan-Sommer | |
| Luka ist Katholik und kroatischer Patriot, nahm 1995 als Reservist an der | |
| Operation „Oluja“ teil. Infolge dieser Militäroffensive flohen rund 200.000 | |
| Serben aus dem eroberten Gebiet, etwa 1.000 Menschen kamen ums Leben. In | |
| Lukas Konoba hängen Plattencover von Charles Mingus, Roland Kirk und dem | |
| kroatischen Funkmusiker Dino Dvornik. Lukas Hund heißt Jaco, nach Jaco | |
| Pastorius. Lukas Augen leuchten nicht, wenn er über kroatische Krieger | |
| spricht, sondern wenn es um schwarze Jazz-, Funk- und Soulmusiker, um den | |
| Kroaten Ante Maglica, der die Mag Lite erfunden hat, um die Fischer von der | |
| Insel Brac und um den von derselben Insel stammenden, in Chile lebenden | |
| Luksic-Clan geht, dem er gerne seinen Lieblingsfußballverein Hajduk Split | |
| verkaufen würde. | |
| Sascha ist Atheist und hat die Welt gesehen. Er war Sternekoch auf | |
| Luxuskreuzern und in gehobenen New Yorker Restaurants, in Belgrad kennt man | |
| seinen Cheesecake-Shop. Sasa hört Pink Floyd, versteht was von schnellen | |
| Autos und nichts vom Angeln, er ist leidenschaftlicher Fallschirmspringer | |
| und kennt die Regeln des Fußballspiels nicht. Seine Augen leuchten nicht, | |
| wenn er über Belgrad spricht, sondern wenn jemand etwas über | |
| Hilfsschirmzugleinen weiß. Er ist von Luka und seiner Welt aus | |
| dalmatinischen Angelhaken und afroamerikanischen Jazzern völlig | |
| hingerissen. | |
| Die beiden sitzen tagelang am Strand und putzen Fische, in und vor der | |
| Konoba, im Optimist, auf der Mole, egal wo, sie reden stundenlang, | |
| vorsichtig, zärtlich, ganz und gar voneinander eingenommen, wie ein Paar, | |
| das sich gerade ineinander verliebt. Einige Male kommen die beiden mit | |
| verweinten Augen zurück von ihren Gesprächen. Was sie sich erzählen, weiß | |
| keiner, es fragt auch keiner. Denn allen ist klar, diese Wiederbegegnung | |
| der beiden Schulfreunde ist auch eine tragische Geschichte, eine Geschichte | |
| die in allen kroatischen, serbischen und bosnischen Biografien der heute | |
| Mitte Dreißigjährigen mindestens einen dunklen Fleck hinterlassen hat. | |
| Normalerweise gesellen sich im Laufe des Abends neben den Beinamputierten | |
| und den Psycho auch noch die anderen Dutzend alten und jungen Männer und | |
| Frauen des Dorfes vor der Konoba, um den Tag und den Tratsch zu besprechen. | |
| Doch in den ersten Wochen nach Saschas Ankunft ist auffällig wenig los. | |
| „Unsere Dorfbewohner müssen sich erst vergewissern, dass der Serbe nicht | |
| anfängt zu schießen“, witzelt Jelena, die aus Sarajevo stammende | |
| Küchenhilfe. | |
| Dann irgendwann erfahren alle, dass Sascha noch nie eine Waffe in der Hand | |
| hatte und dass er Serbien unerträglich findet. Doch seinen Durchbruch hat | |
| Sascha beim Wasserballmatch Kroatien gegen Serbien, das im Fernsehen läuft. | |
| Luka dreht völlig durch, weil der Schiedsrichter nicht merkt, dass eine | |
| Minute vor Schluss – die Kroaten liegen zurück – zu viele Serben im Wasser | |
| sind. | |
| Sasa kennt die Regeln nicht und fragt, ob was passiert sei. „Nein! Nur dass | |
| die Serben immer nur gewinnen, weil sie mogeln.“ „Stimmt“, sagt Sascha. | |
| „Und die Kroaten verlieren immer, weil sie sich darüber aufregen“. Die | |
| Einzige, die sich davon nicht versöhnen lässt, ist die keifende | |
| Schwiegermutter des Beinamputierten. „Wenn der Vater noch leben würde! Der | |
| würde diesen Serben schon aus dem Haus prügeln“, brüllt sie immer wieder | |
| von der Terrasse. | |
| Im Laufe des Sommers flirtet Sascha mit fast allen Dorfmädchen und sie | |
| flirten mit ihm. Er erobert die Herzen der Männer mit Witz und Charme, | |
| fährt Lukas Vespa zu Schrott, fängt eine Große Bernsteinmakrele, guckt | |
| mehrere Staffeln „Seinfeld“ und erhält das Visum für Australien. | |
| An seinem letzten Abend sitzen alle vor der Konoba und sind froh, dass die | |
| Saison vorbei ist. Außer der Beinamputierte und der Psycho. Die müssen sich | |
| weiter von der Großmutter beschimpfen lassen. | |
| 8 Jan 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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