# taz.de -- Arbeiten am Körper: Mit Adorno im Fitnessstudio | |
> Wer sein Berufsleben hinter sich hat, macht heute gern Muskeltraining. | |
> Das ist kein bloßes Echo der Fabrikgesellschaft. | |
Bild: Sieht gut aus, ist aber Arbeit. | |
Heinz D. ist 58, früher war er Elektroinstallateur, jetzt ist er | |
Frührentner. Es ist Montagmorgen neun Uhr, und wie fast jeden Tag liegt | |
Heinz D. auf der Gymnastikmatte und macht Dehnübungen, ehe es ans | |
Rudergerät geht. Edgar F., 63, früher Bürokaufmann in einem | |
Industriebetrieb, jetzt frühverrentet, kommt ein paar Minuten später in das | |
Fitnessstudio und stemmt als Erstes Gewichte. Später trudelt noch ein | |
halbes Dutzend ein, vier in Rente, zwei Freiberufler mit viel Freizeit. Die | |
meisten kennen sich von früher aus der Firma. | |
Erstaunlicherweise ist das Fitnessstudio morgens manchmal voller als | |
abends. Ganze Trauben von grauhaarigen, rüstigen älteren Männern und Frauen | |
machen Liegestütze, stemmen Gewichte, ackern an Crosstrainern, stärken die | |
Rückenmuskulatur, lärmen auf Laufbändern. Man kennt sich, es wird gegrüßt | |
und auch von Fremden erwartet, dass zurückgegrüßt wird. Abends, wenn die | |
Berufstätigen das Bild bestimmen, geht es anonymer und eher grußlos zu. | |
Wer in das Studio kommt, muss als Erstes seinen Mitgliedsausweis von einem | |
elektronischen Gerät einlesen lassen. Wer geht, muss dies wiederholen. | |
Dieses Verfahren erinnert an eine Stechuhr. An den Geräten sind überall | |
lesbare Anweisungen angebracht, wie diese Maschinen effektiv zu bedienen | |
sind. Der Raum ist vom Tresen her überschaubar und erinnert an ein | |
Panoptikum. Kurzum, der kulturkritisch geschulte Blick entdeckt im | |
Fitnessstudio ein ironisch gebrochenes Echo der Inszenierungen der | |
Disziplinargesellschaft und des Regimes einer tayloristischen Fabrik. Nur | |
dass die Bewegungen hier nicht der Produktion von verkäuflichen Waren | |
dienen, sondern der von Körpern, denen man das Alter nicht so arg ansehen | |
soll. | |
Auch das Verhalten der überwiegend männlichen Rentner ahmt jene | |
Verbindlichkeit nach, die Kommunikation an Arbeitsplätzen kennzeichnet. Man | |
kommt pünktlich und zur gleichen Zeit. Der Ablauf ist ritualisiert, man | |
benutzt die Geräte stets in gleicher Reihenfolge. Kulturkritisch betrachtet | |
scheint die Arbeitsgesellschaft auch ihre Ex-Mitglieder so fest im Griff zu | |
haben, dass sie auch in ihrer Freizeit zwanghaft Arbeitsroutinen | |
wiederholen müssen. Bestätigen die gestählten Körper der Bodybuilder diesen | |
Befund nicht unübersehbar? | |
„Der Körper ist nicht mehr zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die | |
Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird“, schrieben Adorno und | |
Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“. Die Körper bleiben auf ewig | |
verkrüppelt, weil die Muster der Disziplinierungen noch die Synapsen | |
formatiert haben. Theoretisch. | |
Praktisch wirkt, was Heinz D. und Edgar F. fast jeden Morgen tun, nicht | |
zwanghaft. Zwischen der Arbeit an Beinpresse und Stepper werden oft kurze | |
Pausen gemacht, um über Autos, Politik, Fußball, Urlaub zu reden. Man ist | |
hier, um den Körper gelenkig zu halten. Mindestens ebenso wichtig scheint | |
es, zu zeigen, dass man Teil der Gruppe ist. Nicht die Fitnessgeräte geben | |
den Takt vor, sondern die Inszenierung des Sozialen, Kommunikativen. | |
Allerdings kann man sich Gesprächen auch jederzeit entziehen und wieder den | |
Geräten zuwenden, was auch Vorteile hat. | |
All dies hat etwas Leichtes. Auch die blinkenden Messdaten, die | |
verbrauchten Kalorien, gelaufenen Kilometer, gestemmten Kilos sind eher | |
Spielmaterial als starrer Kontrollzwang. Vieles kann, nichts muss. Heinz D. | |
und Edgar F. sind im Fitnessstudio nicht die letzten Gefangenen der | |
Arbeitsgesellschaft, sondern Protagonisten einer freien Geselligkeit. | |
9 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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