| # taz.de -- Buch über Reformpädagogik: Wo bin ich da gelandet? | |
| > Verstrahlt die Reformpädagogik die demokratischen Graswurzelschulen? Sie | |
| > muss sich in jedem Fall kritisch mit ihren Wurzeln auseinandersetzen. | |
| Bild: Schule kann auch Spaß machen, zum Beispiel bei diesem Zirkusprojekt eine… | |
| Zum Thema Reformpädagogik wurde viel geschrieben, und es stellt sich die | |
| Frage: Wen interessiert die Frage, ob Alternativschulen zur Reformpädagogik | |
| gehören? Es verhält sich wie beim Bäcker: Es kann auch dann etwas | |
| appetitlich aussehen, wenn man nichts über die Herkunft der Zutaten weiß. | |
| Wenn man sich aber mit der Herkunft und den Inhaltsstoffen von | |
| Lebensmitteln beschäftigt, mag man nicht mehr alles essen. Mit den | |
| reformpädagogischen ’Zutaten‘ ist es ähnlich. Jegliche Pädagogik, die si… | |
| nicht kritisch mit ihren Wurzeln auseinander setzt, droht falschen Götzen | |
| aufzusitzen oder ihre eigenen Stärken nicht voll zu entfalten. | |
| Wie die meisten meiner KollegInnen bin ich relativ zufällig zu meiner | |
| ersten Stelle als Lehrer in einer Freien Alternativschule gekommen. Der | |
| Wunsch nach beruflicher Veränderung, eine Stellenanzeige, ein paar gute | |
| Ratschläge und etwas Mut genügten. Als Pädagoge ohne zweites Staatsexamen | |
| kommt man ja sonst nicht so einfach in die Bastion Schule hinein – | |
| eigentlich. | |
| Ich begleitete SchülerInnen, setzte Impulse und „unterrichtete“. Das war | |
| gar nicht so schwer, wie ich zuerst dachte, denn in der Regel wissen Kinder | |
| sehr gut, was sie wollen, wenn sie ernst genommen werden. | |
| ## Pauschale Verdammung | |
| Zur Praxis fanden sich Theorien und zu den Theorien populäre Namen. Die | |
| pauschale Verdammung der „Staatsschule“ bot eine Orientierungshilfe an. In | |
| kurzer Zeit befand ich mich in einem sozialen Umfeld, das aus den | |
| verschiedensten Gründen zustimmte. Und ich selbst ja auch: das vermeintlich | |
| gute Gefühl, alles besser zu machen. Schnell vermengen sich negative eigene | |
| Schulerfahrungen (Wer sucht, der findet!), eine herrschaftskritische | |
| Weltsicht mit einer ordentlichen Portion Moral. | |
| Nach und nach fiel mir auf, dass wir bei Teamsitzungen oder an | |
| Elternabenden immer wieder von den Grundlagen der Alternativschulen | |
| sprachen, ohne dass ein Einvernehmen über die tatsächlichen Wurzeln | |
| bestand. Montessori, Freinet, Hüther und Neill in einem Atemzug zu nennen, | |
| erzeugt viel wohlige Stimmung, aber selten kritische Fragen. Ein Streben | |
| nach Harmonie unter den AkteurInnen der Alternativschulen begünstigt das | |
| Einschmelzen von Widersprüchen. Und wer möchte sich schon neben einem 40 | |
| bis 50 Stunden Job und der eigenen Familie mit den KlassikerInnen der | |
| „Reformpädagogik“ beschäftigen? | |
| Wozu sich um eigene Begründungen für die Arbeit mit Kindern bemühen, wenn | |
| die gesammelten Werke der Reformpädagogik scheinbar voller Belege dafür | |
| sind, dass ab sofort „das Jahrhundert des Kindes“ herrscht, wie es Ellen | |
| Key einst schrieb? Wer sich dem Tenor der reformpädagogischen Literatur | |
| anschließt, kann sich sicher sein, dass er für „die bessere Schule“ und d… | |
| „bessere Pädagogik“ steht. Eine trügerische Sicherheit. | |
| In meiner ersten Zeit als Alternativschullehrer bediente ich mich | |
| willkürlich und phantasiereich in der reformpädagogischen Literatur. Für | |
| jedes Tun gab es einen namhaften Beistand. Dennison für unaufgeräumte | |
| Zimmer, Montessori für die Anschaffung teurer Rechenbretter, Freinet für | |
| das Drucken von Weihnachtskarten und Neill für das Schuleschwänzen. Auch | |
| bei Informationsnachmittagen erhöht es die Überzeugungskraft, wenn man sich | |
| auf namhafte PädagogInnen bezieht, die zwar jeder kennt – von denen aber | |
| kaum jemand etwas wirklich im Original gelesen hat. | |
| ## Inakzeptable Stellen | |
| Dabei finden sich bei vollständiger Lektüre merkwürdige bis inakzeptable | |
| Stellen. Bekannt war mir lediglich, dass die Waldorfpädagogik von einem | |
| esoterisch-rassistischen Guru mit autoritären Vorstellungen von Erziehung | |
| stammt, sich selbst aber in ein kreativ-freiheitliches Mäntelchen hüllt. | |
| Dass sich in der reformpädagogischen Landschaft neben wahrhaft dem Wohl der | |
| Kinder verschriebenen PädagogInnen darüber hinaus auch RassistInnen, | |
| EugenikerInnen, AntisemitInnen, Gurus, Päderasten und andere Verbrecher | |
| tummeln, davon hatte ich nichts geahnt. | |
| Auch während meines Studiums der Erziehungswissenschaften wurde dieser | |
| Bereich irgendwie ausgespart. Oder auch nicht: die Originaltexte der | |
| namhaften ProtagonistInnen der Reformpädagogik standen in der Bibliothek. | |
| Aber wir haben sie oft zu wenig beachtet, nicht gründlich gelesen und | |
| unkritisch der Sekundärliteratur vertraut. | |
| Ich begann Originaltexte von Tolstoi und Ferrer zu lesen, um gute Gründe zu | |
| finden, wie Alternativschulen theoretisch zu untermauern seien. Auf diesem | |
| Weg begegneten mir zwei Überraschungen. Zum einen haben die allerwenigsten | |
| TheoretikerInnen aus dem reformpädagogischen Spektrum eine gelungene Praxis | |
| zu ihren Ideen vorzuweisen (wobei gerade Tolstoi und Ferrer dies gelungen | |
| ist). | |
| ## Unwertes Leben | |
| Zum anderen begegnete ich manchmal seltsamen Konzepten, die mir fremd waren | |
| – und sind: „Inneren Bauplänen“ (Maria Montessori), in denen unsere | |
| Entwicklungsmöglichkeiten individuell festgelegt seien, „unwertem Leben“ | |
| (Ellen Key), das durch Töten früh beendet werden solle, „Wurzelrassen“ | |
| (Rudolf Steiner) nach denen „Schwarze“ grundsätzlich einen starken | |
| Sexualtrieb hätten und „Pädagogischem Eros“ (Gustav Wyneken u.a.), der von | |
| Päderasten als Legitimation für sexuelle Gewalt gegen Kinder genutzt wird. | |
| Wo war ich da gelandet? Sicher, jeder dieser Ansätze hat seine eigenen | |
| Facetten. Ist der eine offensichtlich menschenfeindlich, so offenbart sich | |
| ein anderer erst bei der näheren Lektüre. War Montessori für den | |
| Mussolini-Faschismus temporär anschlussfähig, so ist es der „Pädagogische | |
| Eros“ für Päderasten grundsätzlich. | |
| Zweierlei haben all diese verschiedenen Ansätze gemeinsam: Sie beruhen auf | |
| erdachten Annahmen und sie geben nur vor, „vom Kind aus zu denken“. Das | |
| Leitmotiv der reformerischen Bewegung wurde zum Legitimationsslogan für | |
| umtriebige Personen der verschiedensten Weltanschauungen und mit den | |
| unterschiedlichsten Neigungen. Mit diesen Erkenntnissen begann der | |
| theoretische Boden unter mir zu wackeln. Unter welcher Fahne segelt man da? | |
| Kann man überhaupt ’vom Kind aus denken‘? | |
| Ich stand vor der Frage, ob ich mich ganz gegen „die Reformpädagogik“ | |
| stellen sollte um das „freiheitliche, kindgerechte Image“ zu bekämpfen, das | |
| sie zu Unrecht umgehängt bekommt. Oder ob ich anfangen sollte, für mich ein | |
| differenziertes Bild zu erarbeiten und ganz subjektiv „Spreu und Weizen“ zu | |
| trennen. Ich entschied mich für letztere Option, denn man kann ja nicht den | |
| selbsternannten ProphetInnen einer vermeintlichen „Reformpädagogik“ das | |
| Feld überlassen. Das wäre ja, als ob man vor der Lebensmittelindustrie | |
| kapitulieren würde, statt nach Alternativen zu suchen. | |
| ## Diffuse Grundlagen | |
| Zeitgleich konnte ich jeden Tag die Erfahrung machen, dass Alternativschule | |
| gelingt, dass die Hinwendung zu den Kindern und eine „Schule machen auf | |
| Augenhöhe“ sehr wohl möglich sind. Dieser oft beeindruckende Schulalltag | |
| auf der einen Seite und die teilweise diffuse reformpädagogische Grundlage | |
| auf der anderen Seite, stellen einen Widerspruch dar, den man jeden Tag neu | |
| lösen muss. Die vermeintlichen theoretischen Grundlagen müssen studiert, | |
| durchforstet und neu bewertet werden. Wie ein Flickenteppich stellt sich | |
| die reformpädagogische Landschaft dar. Manches ist hässlich, einiges | |
| inspirierend und anderes zukunftsweisend. | |
| Einen Überblick kann man gewinnen, wenn man sich konsequent immer nur einen | |
| Bereich, ein konkretes Schulprojekt anschaut. Und am besten gelingt dies, | |
| wenn man nicht nach Zuspruch für eine wie auch immer geartete | |
| reformpädagogische Praxis sucht. Auf diesem Weg begegnen einem immer wieder | |
| überzeugende Projekte wie die Versuchsschulen in Hamburg (zur Zeit der | |
| Weimarer Republik) oder Ideen von Janusz Korczak. | |
| Ich glaube nach wie vor, dass Alternativschulen eine unverzichtbare und | |
| mitunter provokante Bereicherung der Schullandschaft sind. Aber aus anderen | |
| Gründen, als vor der Lektüre der mehr oder weniger namhaften | |
| KlassikerInnen. Sie sind nicht progressiv, weil sie reformpädagogische | |
| Schulen sind. Sie sind nicht fortschrittlich, weil Namen wie Montessori | |
| oder Petersen in den Konzepten auftauchen. Sie sind nicht gut, weil andere | |
| Schulformen schlecht seien. | |
| Alternativschulen haben relativ bewegliche Konzeptionen und entwickeln sich | |
| ständig weiter. Sie stellen sich den Widersprüchen zwischen Anspruch und | |
| den Realitäten. Sie trauen den Kindern tatsächliche Mitbestimmung zu und | |
| beweisen, dass Lernen ohne Druck und Auslese gelingt. | |
| Alternativschulen haben sich ihren kritischen Geist bewahrt und können gut | |
| oder sogar besser damit umgehen, wenn auch die VordenkerInnen alternativer | |
| Schulformen ihre eigenen Widersprüchlichkeiten mit sich bringen. Diese | |
| Schulen sind keine Glaubensgemeinschaften sondern Orte des lebhaften | |
| Hinterfragens. Dafür verdienen sie Beachtung. | |
| ## Matthias Hofmann, „Geschichte und Gegenwart Freier Alternativschulen“, | |
| Klemm&Oelschläger 2013, 14,80 Euro, 159 S. | |
| 15 Feb 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Matthias Hofmann | |
| ## TAGS | |
| Reformpädagogik | |
| Rudolf Steiner | |
| Reformpädagogik | |
| Film | |
| 80er Jahre | |
| Waldorfschule | |
| Schriftsteller | |
| Reformpädagogik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Natur- und Umweltschule Dresden: Der Wald darf keine Schule sein | |
| Eine reformpädagogische Naturschule in Dresden kämpft seit Jahren um ihre | |
| staatliche Anerkennung. Ein Gericht entscheidet jetzt über ihre Zukunft. | |
| Kinofilm zur Bildung: Die neuen Schulverächter | |
| Erst Richard David Precht, jetzt der Film „Alphabet“: Kritik an der Schule | |
| als Abrichtungsanstalt ist en vogue. Die Argumente sind dabei oft absurd. | |
| Schulverweigerer Moritz Neubronner: „Zu Hause konnte ich ausschlafen“ | |
| Der Bremer Schulverweigerer Moritz Neubronner war wieder in der Schule – um | |
| die mittlere Reife zu machen. Auf Dauer zurück will er aber nicht. | |
| Grüne und „Sex mit Kindern“: Im Zentrum der Macht | |
| Päderasten bei den Grünen der frühen 80er, war das nur eine Splittergruppe? | |
| Die AG hatte mehr Einfluss, als es die Partei heute glauben machen will. | |
| Lehrer über Hamburger Schulversuch: „Waldorf ist unwissenschaftlich“ | |
| In Hamburg sollen Waldorflehrer an eine staatliche Schule gehen. Diese | |
| Pädagogik hält der Initatior einer Petition für gefähliche Esoterik. | |
| Der Autor Robert Schindel: Die Wirklichkeit als Steinbruch | |
| Über 20 Jahre später: Der Wiener Schriftsteller Robert Schindel hat nun mit | |
| „Der Kalte“ ein Schlüsselwerk über die Ära Waldheim vorgelegt. | |
| Konzept Reformpädagogik: Bildungsprediger in der Krise | |
| Reformpädagogen predigen die Nähe zum Schüler. Aber was heißt Beziehung | |
| ganz konkret? Anmerkungen zur pädagogischen Schönfärberei. | |
| Aufarbeitung Odenwaldschule: In der Sackgasse | |
| Das einstige Musterprojekt Odenwaldschule findet keinen Umgang mit den | |
| Opfern sexueller Gewalt. Ganz anders als die Penn State University in den | |
| USA. | |
| Staatliche Schule mit Waldorfpädagogik: Grundschule mit Astralleib | |
| In Hamburg sollen erstmals Waldorflehrer an einer staatlichen Schule | |
| unterrichten. Kritiker verweisen auf die esoterischen Wurzeln der | |
| Pädagogik. | |
| Barbara Riekmann über Reformpädagogik: "Kinder sollen bestärkt werden" | |
| Reformpädagogin Barbara Riekmann verlässt nach 25 Jahren die Max Brauer | |
| Schule. Um die Stadtteilschulen macht sie sich Sorgen - und fordert einen | |
| runden Tisch. |