# taz.de -- Schulverweigerer Moritz Neubronner: „Zu Hause konnte ich ausschla… | |
> Der Bremer Schulverweigerer Moritz Neubronner war wieder in der Schule – | |
> um die mittlere Reife zu machen. Auf Dauer zurück will er aber nicht. | |
Bild: Hält Lernen in der Schule für ineffizient: Moritz Neubronner. | |
taz: Moritz, du hast die mittlere Reife mit einem Schnitt von 1,4 geschafft | |
– ein gutes Gefühl? | |
Moritz Neubronner: Ein wunderbares Gefühl. Es war ja die Frage, ob man | |
Schulabschlüsse machen kann, ohne zur Schule zu gehen. Ich bin vier Monate | |
lang in die Schule gegangen, habe viel gepaukt, und es hat sich gelohnt. | |
Eine drei habe ich – in Physik. Da hatte ich Pech, der Lehrer war die | |
meiste Zeit krank. | |
Wie lange bist du vorher nicht zur Schule gegangen? | |
Seit der zweiten Klasse nicht mehr, mehr als sieben Jahre. | |
War das komisch, wieder in einem Klassenraum vor einer Tafel zu stehen? | |
Sehr ungewohnt. Ich hatte zwischendurch mal hospitiert, aber das erste Mal | |
seit der Grundschule war ernst. Ich habe mich aber schnell daran gewöhnt. | |
Woran muss man sich gewöhnen? | |
Das ist eine komplette Umstellung des Lebens. Zu Hause konnte ich | |
ausschlafen. Gut, das ist vielleicht nicht so wichtig? | |
Naja, Pädagogen sagen, dass das frühe Aufstehen für den Biorhythmus Gift | |
ist. | |
Das habe ich auch gehört. In der Schule gibt es einen Stundenplan, Pausen. | |
Das war bei mir und meinem Bruder nicht so. Wir hatten anfangs versucht, | |
Schule nachzuspielen zu Hause, auch aus Unsicherheit, das hat sich aber | |
dann weiter verwischt. Die letzten Jahre habe ich gar nichts gemacht, was | |
sich wie Schule anfühlte, Matheaufgaben oder so, sondern nur das, wozu ich | |
gerade Lust hatte. | |
Wenn Jugendliche sagen, sie wollen das machen, wozu sie Lust haben, dann | |
haben Erwachsene oft die Sorge, dass sie einfach nur abhängen. | |
Das kann ich gut verstehen. Wenn ich aus der Schule komme, habe ich wenig | |
Antrieb, ein größeres Projekt anzufangen, einen Film zu drehen oder so was. | |
Dann bin ich erschöpft und mache nur gar nichts oder fernsehen. Die ersten | |
Monate, in denen ich nicht mehr zur Grundschule gegangen bin, habe ich auch | |
nichts gemacht, aber dann haben wir Dinge angefangen. Wenn wir die ganzen | |
acht Jahre nur abgehangen hätten, wäre mir sicherlich schnell langweilig | |
geworden. | |
Was habt ihr gemacht? | |
Ich war im Sportverein, habe im Chor mitgesungen, habe Posaune gespielt, | |
Fußball, habe Kickboxen und Thaiboxen gemacht, Kung-Fu mache ich jetzt | |
noch. Ich habe viel gelesen, ich hatte Zeit für Dinge, für die man als | |
Schüler vielleicht keine Zeit hat. Wenn ich jetzt den Schulabschluss mit | |
wenig Vorbereitung geschafft habe, dann denke ich, dass dieser Weg nicht so | |
falsch sein kann. | |
In der Schulklasse hat man auch Gemeinschaft. War das auch | |
gewöhnungsbedürftig? | |
Ich war in Sportgruppen, das System Gruppe war mir vertraut. Ich bin sehr | |
gut aufgenommen worden. Es ist mir leicht gefallen, mich zu integrieren, | |
und ich habe auch darauf geachtet, dass ich mich sozial verhalte und nicht | |
quer stelle. | |
Hast du noch eine Erinnerung daran, was damals, als du acht Jahre alt | |
warst, das Problem mit der Schule war? | |
Das war ein schleichender Prozess. Ich war von Anfang an nicht glücklich in | |
der Schule. Wir hatten nahe der österreichischen Grenze gewohnt, da gab es | |
Schüler aus Österreich, die dann plötzlich nicht mehr kamen. Ich habe meine | |
Eltern gefragt, was mit denen ist, und die haben mir erklärt, dass man in | |
Österreich eben zu Hause lernen darf. Dieser Wunsch ist in mir gewachsen. | |
Deine Grundschule in Bayern war eine Montessori-Schule … | |
Meine Eltern hatten die sogar mitgegründet für uns. | |
Trotzdem war das nicht gut? | |
Die Schulen haben alle einen Grundzwang, egal welches System es ist. | |
Hast du dir den Zwang nicht nur in anderer Form selbst angetan? | |
Eigentlich nicht. Ich habe mir keinen Stundenplan gemacht, ich hatte kein | |
großes Ziel vor Augen, was der Stoff sein könnte, den ich lernen will. Für | |
den Hauptschulabschluss und für den mittleren Schulabschluss habe ich mir | |
natürlich solche Ziele setzten müssen. Aber die Jahre davor habe ich nur | |
gemacht, wozu ich Lust hatte. Ich habe mich mit alltäglichen Problemen | |
beschäftigt. | |
Hast du eine Vorstellung, wie weit Santiago de Chile von Lima entfernt ist? | |
Nein. Keine Ahnung. | |
Was für Aufgaben hast du dir denn gestellt, bei denen man etwa Mathe lernen | |
muss? | |
Daran erinnere ich mich ehrlich gesagt nicht. Ich habe natürlich, wenn ich | |
einen Schreibtisch haben wollte, das ausgemessen. Vieles lernt man eben | |
automatisch. In der Schule habe ich gemerkt, dass ich das in Mathe kann, | |
was die anderen lernen mussten. Ich habe am Ende ja auch eine Eins in Mathe | |
gemacht. | |
Was ist mit Mengenlehre – lernt man das auch automatisch? | |
Nein. Als ich mich entschlossen habe, den mittleren Schulabschluss zu | |
machen, da war klar, dass ich mir das aneignen muss. Die Schule legt fest, | |
was jeder wissen muss – aber jeder Schüler ist ja doch individuell. Wieso | |
soll jeder Schüler wissen, wie viele Quadratkilometer China hat? Wer das | |
braucht, kann das doch herausfinden. | |
Du bist den Weg ohne Schule mit Thomas, deinem zwei Jahre jüngeren Bruder, | |
gemeinsam gegangen. | |
Ja. Meine Eltern waren nach Bremen gezogen, mein Bruder wurde in Bremen | |
eingeschult, ist dort aber nur wenige Wochen geblieben. Ihm hat es noch | |
weniger gefallen als mir. Er hat bei mir auch mitbekommen, dass es anders | |
geht. Wir haben uns wunderbar ergänzen können. Einmal haben wir sämtliche | |
Hauptstädte Europas auswendig gelernt, irgendwie hatten wir Lust, so was zu | |
lernen und haben uns gegenseitig abgefragt. | |
Ist er seinem Jahrgang zwei Jahre voraus, weil er immer mit dir zusammen | |
war? | |
Mag sein. Vielleicht war es ein Vorteil, dass er mit mir gelernt hat, | |
vielleicht aber auch ein Nachteil. | |
Musstet ihr eure Eltern davon überzeugen, frei lernen zu dürfen? | |
Ich kann mich an einige Diskussionen erinnern. Sie haben aber dann gemerkt, | |
dass ich in der Schule nicht gut klarkomme und dass das für mich nicht das | |
Richtige war. Sie haben sich in Österreich erkundigt, wie es ohne Schule | |
geht. | |
Die Eltern haben euch geholfen – jeden Tag mehrere Stunden? | |
Anfangs sicherlich mehr, später weniger. Wir waren oft im Alltag dabei, | |
später haben wir eher lange Diskussionen am Küchentisch geführt. Insgesamt | |
haben sie viel Zeit für uns gehabt. | |
Hast du Fremdsprachen gelernt? | |
Englisch kann ich gut. | |
Wo hast du das gelernt? | |
Im Internet. Ich habe öfter Computerspiele gespielt, die es nur im Internet | |
gab, ich habe Filme im Original gesehen, weil die Synchronisation schlecht | |
war. | |
Hast du dich mal mit einem Engländer unterhalten? | |
Mit Kanadiern. Die waren von meinem Englisch sehr angetan. | |
Was hat du für eine Note? | |
Eine 2. | |
Und Französisch? | |
Ich habe Spanisch als Fremdsprache gewählt. | |
Aber ihr habt doch lange in Frankreich gelebt? | |
Naja, in Lothringen direkt an der deutschen Grenze. Da sprachen alle | |
deutsch. | |
Wo hast du Spanisch gelernt? | |
Ich konnte am Anfang dieses halben Schuljahres kein Wort, ich hatte dann | |
einen netten Nachhilfelehrer. Ich habe mich da reingekniet, weil ich das | |
Ziel vor Augen hatte, das zu lernen. Ich will im nächsten Jahr in Spanien | |
Urlaub machen. Vielleicht liegen mir auch Sprachen. | |
War das leicht, sich in der Schule wieder anzumelden? | |
In Frankreich gibt es keinen Schulzwang, in den meisten europäischen | |
Ländern nicht. Nachdem ich mich wieder in Bremen gemeldet habe, unterlag | |
ich ja der Schulpflicht – die mussten mich nehmen. | |
Und jetzt bist du mit dem System zurechtgekommen? | |
Ich habe mich jetzt für ein halbes Jahr darauf eingelassen, das ist eine | |
begrenzte Zeit. So ging das. | |
Nach den Sommerferien gehst du auf eine gymnasiale Oberstufe? | |
Wahrscheinlich nicht. Ich will danach nicht weiter zur Schule gehen, es | |
gibt keinen Grund, die nächsten drei Jahre in der Schule zu verbringen. | |
Es könnte sein, dass es schön ist, in die Schule zu gehen. | |
Das könnte sein, ist es aber nicht. Für das halbe Jahr war es in Ordnung, | |
aber die nächsten Jahre will ich wieder meine Freiheit genießen. Und ich | |
will in verschiedene Berufe hineinschnuppern, Praktika machen. Für das | |
Abitur würde ich dann eventuell später einsteigen. | |
Für ein Externen-Abitur müsstest du viel allein lernen. | |
Stimmt, aber in der Schule ist das Lernen einfach nicht so effektiv, weil | |
man auch viel Ablenkung hat durch die anderen Schüler. | |
Deine Eltern sind beide Freiberufler, liegt darin für dich ein Vorbild? | |
Ich denke ja. Es ist ein angenehmes Gefühl, selbst seine Arbeit | |
zusammenstellen zu können. Das möchte ich später auch. | |
Waren deine Eltern glücklich, als du gesagt hast: „Ich gehe jetzt wieder | |
zur Schule?“ | |
Mein Vater hat sich gefreut, meine Großeltern noch mehr. | |
Hast du eine Idee, in welche Berufsrichtung zu gehen willst? | |
Ich lese gerne, spreche gerne. Vielleicht mache ich eine Sprachausbildung, | |
um professioneller Sprecher zu werden. Ansonsten interessiere ich mich sehr | |
für Kameratechnik. | |
Der Beruf des Sprechers ist nicht unbedingt kreativ. Man muss meist das | |
sprechen, was andere aufgeschrieben haben. | |
Stimmt, aber man kann in die Sprache seinen eigenen Stil hineinlegen. | |
Macht man Abitur nicht eigentlich, um zu studieren? | |
Im Moment bin ich noch nicht an dem Punkt, mir darüber viele Gedanken zu | |
machen. Es gibt auch viele Berufsausbildungen, für die das Abitur die | |
Voraussetzung ist. Ich will mir in den nächsten Jahren verschiedene Berufe | |
genauer angucken. | |
Was machst du, wenn du das Zeugnis in die Hand gedrückt bekommen hast? | |
Viel schlafen. Und Urlaub. | |
28 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
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Hamburg | |
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