# taz.de -- Liv Haym über Heimunterricht: "Klara hat Meldeverbot bekommen" | |
> Liv Haym hat ihre Tochter nach der siebten Klasse von der Schule genommen | |
> und zu Hause unterrichtet. Ihr Kind hatte begonnen, sich selbst zu bilden | |
> und wurde gemobbt. Als Heimschülerin war das Mädchen zu Heimlichkeiten | |
> gezwungen | |
Bild: "Die Kinder entwickeln schnell so ein Angestelltenverhalten: Sie tun das,… | |
taz: Frau Haym, in Ihrem gerade erschienen Roman „Schulflucht“ haben Sie | |
alle Namen und Orte verändert. Können Sie von den Schulbehörden noch | |
rechtlich belangt werden? | |
Liv Haym: Nein, da gibt es keine Probleme mehr, das ist alles längst | |
verjährt. Aber es ist die Geschichte von meiner Tochter und mir. Es sind | |
reale Personen, über die da geschrieben wurde, und die möchte ich schützen. | |
Auch die Nacherzählung des Geschehens ist daher geringfügig fiktional | |
verfremdet. Aus Tarnung sind alle Namen, Schauplätze und Ereignisse im | |
Tatsachenbericht anonymisiert. | |
Sie haben Ihre Tochter auf deren Wunsch nach der siebten Klasse von der | |
Schule genommen, ohne dass die Schulbehörden etwas ahnten. Wie kam es dazu? | |
Die Probleme begannen schon in der ersten Klasse. Klara kam mit der dort | |
vorgeschriebenen Art zu lernen nicht zurecht und geriet immer öfter mit den | |
Lehrern aneinander. Zu der Zeit habe ich sie dann einfach immer mal ein | |
paar Tage bei mir zu Hause „schulfrei“ machen lassen. Nach der zweiten | |
Klasse wollte es das Glück, dass wir umgezogen sind. Ich habe Klara dann | |
die zweite Klasse noch einmal wiederholen lassen und sie hatte drei | |
wirklich glückliche Grundschuljahre. Darauf folgten dann zwei Jahre in der | |
Orientierungsstufe und da begann es wieder, dass ihre Art, Dinge | |
aufzufassen und sich damit auseinanderzusetzen, nicht schulkompatibel war. | |
Was heißt „nicht schulkompatibel“? | |
Ich habe zu Hause eine große Bibliothek stehen, zu der Klara freien Zugang | |
hatte. Sie hat sich selber gebildet und zu der Zeit auch schon Klavier und | |
Geige gespielt. Und ihr neu erworbenes Wissen auch in die Schule getragen. | |
Dafür hat sie von einigen Lehrern ein Meldeverbot bekommen oder wurde dazu | |
gezwungen, den Unterricht alleine zu gestalten. Auch von ihren | |
Klassenkameraden wurde sie teilweise abgelehnt. Irgendwann hatte es dann | |
eine Grenze erreicht. Schule war einfach keine Option mehr. | |
Welche Möglichkeiten hatten Sie damals? | |
Es gab gar keine andere Möglichkeit als die, die wir gewählt haben. Wir | |
wurden auch nirgendwo ordentlich informiert. Ein Schulpsychologe riet ab, | |
eine Hochbegabten-Beratungsstelle winkte ab. Ein befreundeter Flötist hat | |
mir dann ein paar Bücher empfohlen und aus seinen Erfahrungen erzählt. Er | |
selbst hatte seine Kinder auch nie zur Schule geschickt. Aber er kam aus | |
der Schweiz, da ist das in fast allen Kantonen erlaubt. Mein Mann und ich | |
haben dann entschieden, dass es gar keine Schule mehr geben wird. Hinzu | |
kam, dass Klara zu dem Zeitpunkt schon zwei Instrumente gespielt hat und | |
immer mehr Zeit brauchte, um alleine zu üben. | |
Wie haben Sie das organisiert? | |
Es ist sehr viel heimlich, ohne das Mitwissen anderer geschehen. Klara hat | |
bei uns zu Hause mit Fernschulmaterial gelernt, das wir von einer Bekannten | |
bekommen haben. Wir hatten bei der Abmeldung von Klaras letzter Schule | |
angegeben, dass sie nun auf eine Schule in der Stadt ihres von uns getrennt | |
lebenden leiblichen Vaters gehen wird, sie aber dort nie angemeldet. Sie | |
hat sich später dann als Externe bei einer Bildungsbehörde zu den Prüfungen | |
angemeldet. Das lief alles sehr glatt. Sie hat ihren Realschulabschluss mit | |
1,2 bestanden. | |
Wie ging es Klara zu der Zeit? | |
Am Anfang hat sie das Heimliche an ihrer Situation sehr bedrückt, nachher | |
war sie richtig zufrieden. Sie hatte da ihre eigene „Schule“ zu Hause und | |
als Jungstudentin hat sie an der Hochschule ihre Mitstudenten getroffen. | |
Das Einzige, was sie nicht gut fand, war, dass die nicht gleichaltrig | |
waren. Ich habe ihr zwischendurch auch gesagt, dass sie ruhig wieder zur | |
Schule gehen könne, aber sie wollte nicht. Wir hätten zwar eine | |
Ordnungsstrafe zahlen müssen, aber das hätte ich dann abgedrückt. | |
In Ihrem Buch fragen Sie, ob andere Kinder wirklich mit der Schule | |
klarkommen, oder ob die nur ihre Stunden absitzen. | |
Die Kinder kommen in die Schule, freuen sich auf immer mehr | |
Eigenständigkeit im Lernen. Und dann kriegen sie plötzlich gesagt, du hast | |
nur so zu lernen und nicht anders. Die Kinder entwickeln dann schnell so | |
ein Angestelltenverhalten: Sie tun das, was sie müssen und nicht mehr. | |
Pflicht und Lernen kommen zusammen. | |
Klara ist Ihrer Meinung nach ein Kind, das einfach nicht in die Schule | |
passt. Aber wie kann bewertet werden, ob ein Kind von sich aus nicht in die | |
Schule will – oder ob das die Meinung der Eltern ist? | |
Eine gute Frage. Aber niemand stellt sie andersherum: Ob der gesetzlich | |
verordnete Schulanwesenheitszwang den Kindern passt. In Österreich zum | |
Beispiel ist es für den Staat in Ordnung, wenn ein Kind anders lernen will | |
als in der Schule – beispielsweise zu Hause. Die Behörden werden vorher | |
informiert. Das Kind muss dann einmal im Jahr an die örtliche Schule und | |
dort eine Prüfung ablegen. Da wird festgestellt, ob das Kind den gleichen | |
Wissensstand wie die Schulkinder hat. Es wird aber nicht gefragt, aus | |
welchen Gründen das Kind nicht zur Schule geht. Es geht nur um den | |
Bildungsstand – wer den nicht erreicht, muss wieder zur Schule. | |
Muss man nicht überprüfen, ob das Kind selbst mit seiner Situation | |
glücklich ist oder aber sich den Vorstellungen der Eltern unterwirft? | |
Der Wille des Kindes hat Vorrang. Die Eltern müssen Gespräche mit ihren | |
Kindern führen und gucken, ob sie einem Leidensdruck ausgesetzt sind. Klara | |
zum Beispiel hätte ja jeder Zeit wieder zurück in die Schule gehen können. | |
Was sind Ihre Forderungen an das deutsche Bildungssystem? | |
Im Grundgesetz gibt es diese Floskel, dass sich jeder nach seinem Gustus | |
bilden darf. Nun ist aber die Schulgesetzgebung Sache der Länder und geht | |
gegen das Grundgesetz. Da wird sich immer noch an der im Faschismus | |
gesetzlich verordneten Schulanwesenheitspflicht orientiert. Wenn die | |
wegfallen würde, entstünde eine viel größere Freiheit. | |
Sie fordern also eine Bildungs- statt einer Schulpflicht? | |
Ich bin dafür, dass die Diskrepanz zwischen dem Grundgesetz und den | |
schulgesetzlichen Regelungen der Länder aufgehoben wird. Und zwar in Bezug | |
auf den Anwesenheitszwang in der Schule. | |
Wenn Sie zurückblicken: Hätten Sie im Nachhinein etwas anders gemacht? | |
Ich hätte Klara früher von der Schule nehmen sollen, vielleicht sogar schon | |
nach der zweiten Klasse. Und ich bereue es, nicht ins Ausland gegangen zu | |
sein. Dann hätten wir kein Doppelleben führen müssen. | |
Klara selbst äußert sich ja nicht gegenüber der Presse. Wie, meinen Sie, | |
bewertet sie ihre Erlebnisse? | |
Klara ist zurzeit sehr damit beschäftigt, sich ihren Beruf als Pianistin | |
aufzubauen. Sie findet, dass der Weg gut war, aber sie wäre auch gerne zur | |
Schule gegangen – auf eine andere Art der Schule natürlich. Das habe ich | |
daran gemerkt, dass sie so intensiv zur Hochschule gegangen ist. Am | |
liebsten wäre es ihr gewesen, zusammen mit anderen Kindern in einer Gruppe | |
zu fünft oder sechst zu lernen, entweder reihum von den Eltern oder von | |
einem Lehrer unterrichtet. | |
Welche Reaktionen löst Ihr Buch aus? | |
Lehrer, die es gelesen haben, sind ziemlich wütend. Deren Tenor ist, dass | |
die Schüler sich nur ein bisschen bemühen müssten, dann würde die | |
Zusammenarbeit mit den Lehrern auch funktionieren. Eltern finden das Buch | |
gut – viele finden sich auch selbst in einigen Passagen wieder. | |
17 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Anissa Brinkhoff | |
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