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# taz.de -- Aufarbeitung Odenwaldschule: In der Sackgasse
> Das einstige Musterprojekt Odenwaldschule findet keinen Umgang mit den
> Opfern sexueller Gewalt. Ganz anders als die Penn State University in den
> USA.
Bild: Noch immer nicht wirklich transparent: Der Umgang der Odenwaldschule mit …
BERLIN taz | Die Odenwaldschule kommt nicht zur Ruhe. Bei einer
öffentlichen Anhörung, ausgelöst durch eine Petition an den Hessischen
Landtag, prallten die unterschiedlichen Auffassungen, wie Vergangenheit und
Zukunft der Odenwaldschule (Oso) zu bewältigen sind, aufeinander. An der
Oso waren, seit Mitte der 1960er Jahre bis weit in die 1980er Jahre hinein,
über 100 Schüler Opfer sexueller Gewalt geworden. Als Haupttäter gilt die
damalige Ikone der Reformpädagogik, Gerold Becker.
Glaubt man den Glasbrechern, einem Verein von Altschülern, der Betroffenen
zur Seite steht, dann ist es mit der Aufarbeitung der Schule nicht weit
her. Bei der Anhörung im Heppenheimer Amtshof, zu der die Offiziellen der
Schule genauso erschienen wie Landrat, Vertreter hessischer Ministerien und
lokaler Behörden, gab es Dissens über viele Punkte. Dort zeigte sich, dass
der Verein Glasbrechen nicht allein steht mit seiner Kritik.
Michael Frenzel, ehemaliger Vorsitzender des Trägervereins der
Odenwaldschule, bedauerte, dass die Schule keinen guten Umgang mit ihren
Opfern gefunden hat. Im Deutschlandfunk sagte Frenzel: „Meines Erachtens
wäre die beste Werbung für die Schule gewesen, eine gute Aufarbeitung zu
machen, sich mit den Opfern möglichst schnell zu versöhnen. Versöhnung ist
ein ganz wichtiges Stichwort bei dieser Sache.“
## Gewalt begünstigende Struktur
Unterschiedliche Aufassungen gibt es vor allem bei der Entschädigung der
Opfer und bei den pädagogischen Konsequenzen, die die Odenwaldschule
(nicht) gezogen hat. So ist das prägende Wohnkonzept der Schule das
sogenannte Familienprinzip, das heißt, die Lehrer leben mit ihren Schülern
in Familien genannten Wohngruppen von acht bis zwölf Personen zusammen. Die
Kritiker der Schule sehen das Familienprinzip als begünstigende Struktur,
die es pädokriminellen Lehrern besonders leicht gemacht hat.
Die Schule aber mag das Familienprinzip nicht abschaffen. Gerhard Herbert,
der heutige Vorsitzende des Trägervereins, verteidigt die Familien: „Es
gibt ja viele Beispiele, die belegen, dass Schüler in den vergangenen
Jahrzehnten die Odenwaldschule aufgesucht haben, weil es dieses
Familiensystem gab, und sich dort behütet und beschützt gefühlt haben.“
Hingegen weigert sich der Landrat des Kreises Bergstraße, Matthias Wilkes,
Kinder aus öffentlicher Fürsorge an die Odenwaldschule zu entsenden – und
er begründet das explizit mit dem Fortbestand der Familienidee und ihren
Machtstrukturen: „Darauf zielt die Überlegung, die Lehrer von den Erziehern
in den Familien, in denen die Kinder leben, klar zu trennen. Damit nicht
die Note am Ende das Druckmittel ist, um vielleicht am Ende wieder zu
sexueller Gewalt zu kommen.“
## Kreativer Umgang
Am Familienprinzip hängt Vergangenheit und Zukunft der Odenwaldschule. Das
Prinzip hatte der Gründer der Odenwaldschule, Paul Geheeb, einst von dem
fanatischen Päderasten Gustav Wyneken übernommen. Wyneken hatte in seinem
Landerziehungsheim die Familien ausdrücklich als Wohnform eingeführt, um in
diesen Kameradschaften „pädagogischen Eros“ zu praktizieren. Damit sind
geistig-erotische Verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern gemeint, die
man wohl besser als sexuelle Gewalt gegen Minderjährige bezeichnen muss.
Der heutige Internatsleiter der Odenwaldschule sagte zur Familienidee, wenn
es Kritik an diesem Prinzip gebe, dann müsse man damit eben „kreativ
umgehen“ – denn das „Familienprinzip“ gehöre zu den Grundlagen der
Pädagogik an der Schule.
Wie weit die Odenwaldschule bei ihrer Aufarbeitung und Neukonzeption ist,
lässt sich schwer beurteilen. Denn einen offiziellen Untersuchungsbericht
über die systemisch verankerte sexuelle Gewalt durch zeitweise ein halbes
Dutzend Lehrer gleichzeitig gibt es bislang nicht. Es existiert eine
unabhängige Sammlung von Opferberichten, die 130 Betroffene sexueller
Gewalt ausweist. Diese beruht allerdings ausschließlich auf Berichten von
betroffenen und nichtbetroffenen Schülern.
Auch gibt es mehrere Darstellungen in Buchform, von der eine demnächst mit
einem Buchpreis ausgezeichnet wird. Allerdings: Eine Durchforstung der
Schülerakten, die Vernehmung der Lehrer und eine insgesamt unabhängige
Darstellung der Odenwaldschule als Ort ebenso großer Versprechen wie
Verbrechen liegt bisher nicht vor.
## Angst vor schlechter Öffentlichkeit
Vielleicht hilft ein Vergleich, wie andere Täterinstitutionen mit ihrer
Schuld umgehen. Die Pennsylvania State University hat ein ähnlich
umfangreiches Missbrauchssystem in ihren Reihen durch einen unabhängigen
Ermittler untersuchen lassen. Ein hochrangiger ehemaliger FBI-Direktor
führte hunderte Interviews, bekam Einblick in Akten und Dokumente und
erstellte einen 267 Seiten dicken Bericht. Ergebnis war, dass die
Institution Universität und ihre renommierte Footballmannschaft tief in den
Missbrauch verstrickt war.
Der halbamtliche Bericht des Richters und FBI-Veteranen Louis J. Freeh kam
zu dem Schluss, dass die Verantwortlichen der Universität eine „totale und
konsistente Missachtung“ des Wohles ihrer Jugendlichen zeigten. Wichtigstes
Motiv, den eindeutigen Hinweisen der Schüler auf sexuelle Gewalt nicht
nachzugehen, sei „die Angst vor schlechter Öffentlichkeit“ gewesen. Die
Parallele zur Oso ist offensichtlich: Auch die Odenwaldschule hatte in der
pädagogischen Szene einen Ruf wie Donnerhall, alarmierende Hilferufe und
Hinweise der Schüler wurden gleichfalls überhört.
Aber es gibt eben auch einen Unterschied zwischen Penn-State-Uni und
Odenwaldschule: Die amerikanische Universität hat nicht einmal ein Jahr
nach Bekanntwerden der sexuellen Gewalt (November 2011) einen unabhängigen
Bericht erstellen lassen. Sie stellt sich der Vergangenheit und zieht
Konsequenzen. Die Odenwaldschule aber verspricht seit zweieinhalb Jahren
eine wissenschaftliche Aufarbeitung, geschehen ist nichts. Bis heute musste
sich kein Lehrer der Schule einem offiziellen Interview stellen und
Auskunft über das System Becker geben.
## Podiumsdiskussion: „Odenwaldschule - was hat sich in den beiden letzten
Jahren verändert?“ u. a. mit Tilman Jens, Katrin Höhmann (Schulleiterin,
angefragt), Samstag, 13.Oktober, 13.30 Uhr, Röderhof nahe der Schule
10 Oct 2012
## AUTOREN
Christian Füller
## TAGS
Odenwaldschule
Reformpädagogik
Odenwaldschule
BBC
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