# taz.de -- Der Autor Robert Schindel: Die Wirklichkeit als Steinbruch | |
> Über 20 Jahre später: Der Wiener Schriftsteller Robert Schindel hat nun | |
> mit „Der Kalte“ ein Schlüsselwerk über die Ära Waldheim vorgelegt. | |
Bild: Nicht im Kaffeehaus, sondern in Berlin auf der Bühne: Robert Schindel. | |
Ich treffe Schindel abends im Zartl. Das ist ein Satz wie aus seinem neuen | |
Roman. Es ist auch eine Szene wie aus diesem Roman. Ja, das Zartl, ein | |
Kaffeehaus im 2. Bezirk, ist sogar ein Schauplatz in dem Roman. | |
Der Wiener Schriftsteller Robert Schindel hat sich viel Zeit gelassen. Seit | |
seinem großen Roman, „Gebürtig“, sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. N… | |
aber hat er nachgelegt. Dieser Tage erscheint sein neues Werk: „Der Kalte“, | |
ein Roman, der ausnehmend gut lokalisiert ist. Ort, Zeit und Personen sind | |
sehr klar in der österreichischen Realität der Jahre 1985 bis 1989 | |
angesiedelt. | |
Es sind die „Waldheimjahre“, jene Jahre, in denen sich die | |
Auseinandersetzungen um den konservativen Bundespräsidenten Kurt Waldheim | |
zu einem historischen Moment verdichten. Das Auffliegen seiner | |
verheimlichten Mitgliedschaft bei der SA, beim Nationalsozialistischen | |
Deutschen Studentenbund (NSDStB) und beim NS-Reiterkorps wird zum Symbol | |
für die Wiederkehr der verdrängten nationalsozialistischen Vergangenheit | |
des ganzen Landes. | |
## Das trojanische Pferd | |
Waldheim wird zu einer österreichischen „Affäre“, an der sich seine Gegner | |
formieren: In einem Holzpferd mit dem Namen Waldheim – gestaltet als | |
trojanisches Pferd, aus dessen Bauch die Gespenster der Vergangenheit | |
kriechen sollen – gelingt den Gegnern ein eindrucksvolles Gegenbild. | |
Warum gerade diese Zeit, frage ich Schindel. Weil sie tatsächlich eine | |
Zäsur war. Auch wenn es die FPÖ zehn Jahre später bis in die Regierung | |
geschafft hat? Ja, trotzdem. Denn die Lebenslüge von Österreich als erstem | |
Opfer Hitlers ließ sich nicht mehr aufrechterhalten. | |
Und es war auch die Zeit, in der das Selbstbewusstsein der österreichischen | |
Juden wieder erwachte. Es war die Zeit, in der sie begannen, wieder | |
öffentlich aufzutreten. So auch der damalige Kommunist Schindel, der in den | |
achtziger Jahren sein Judentum angenommen hatte und der Israelitischen | |
Kultusgemeinde beigetreten war. Aus Trotz, sagt er. Und um sich als | |
öffentliche Figur zu bekennen. | |
Die Waldheimjahre waren aber auch die Jahre eines Heroismus in | |
postheroischen Zeiten. Auch wenn dieser Heroismus im Roman selbst | |
relativiert wird durch den wirklichen, den unerreichbaren Heroismus jener, | |
die im Nationalsozialismus Widerstand leisteten. Aber es war die Zeit, in | |
der eine eben erst entstehende Zivilgesellschaft tatsächlich politisch zu | |
handeln begann, indem sie die Selbstdefinition, das Selbstverständnis der | |
Republik umkodierte. Es war ein verspätetes österreichisches 1968. Es war | |
das Ende der Nachkriegsgesellschaft und der Beginn einer postfaschistischen | |
Gesellschaft. | |
Selbst für die Figur des Auschwitzüberlebenden Fraul bestätigt sich diese | |
Zäsur. Er, den seine titelgebende Kälte, seine Gefühllosigkeit „emotional�… | |
ans KZ fesselt, erfährt eine Erlösung – man kann es nicht anders nennen – | |
ausgerechnet durch den ehemaligen KZ-Aufseher Rosinger. Letzterer ist ein | |
bereuender Nazi, der im Laufe des Romans fast sympathisch wird. Ein | |
schriftstellerischer Balanceakt. | |
Ebenso eindeutig wie die Zeit ist der Ort der Handlung ausgewiesen. Es ist | |
nicht einfach nur „Wien“ – wir erfahren vielmehr immer ganz genau, wo in | |
Wien die Figuren gerade sind. Wir kennen Ingeborg Bachmanns Verankerung von | |
Malina im „Ungargassenland“, anhand des herumstreifenden Frauls aber erhält | |
man eine ganze Kartografie der Stadt. | |
Denn alle Straßen, in denen er sich bewegt, werden auch namentlich genannt. | |
Ja, das stimmt, meint Schindel. Dort hinten, ruft er und zeigt freudig aus | |
dem Fenster, dort ist die Geologengasse, dort wohnt der Rosinger! | |
Generationen von Germanisten wird „Der Kalte“ den Stadtführer ersetzen. | |
## Die Waldheimjahre | |
Wien ist aber nicht nur Schauplatz. Es ist auch in Ausdrücken, Sitten und | |
Kneipen so selbstverständliche Lebenswelt, dass sich der ortsunkundige | |
Leser wohl nicht ohne das angehängte Glossar zurechtfinden wird. | |
Wirklich unösterreichisch an diesem Wien-Roman ist aber die Art des | |
Erzählens. Im Unterschied zum ortsüblichen Schwelgen im Exzess ist | |
Schindels Schreibweise unglaublich lakonisch. Ja, meint er, sein Vorbild | |
dafür sei der große Dashiell Hammett, ein Meister der Lakonie. Ein Lob der | |
Lakonie, ruft er! | |
So eindeutig wie Zeit und Ort ist auch das Milieu des Romans. Es ist das | |
Wiener Künstler- und Intellektuellenmilieu der späten achtziger Jahre, | |
dessen Kristallisationspunkt das „Oswald und Kalb“, ein Restaurant im 1. | |
Bezirk, war. Schindel war selbst eine stete Größe dieser Szene, von deren | |
Stammtischen aus eine kulturelle und politische Erneuerung des Landes | |
ausgehen sollte. | |
Gibt es dieses Milieu noch? Nein, sagt Schindel, die meisten haben sich | |
zurückgezogen. Vielleicht liegt es ja nicht nur daran, halte ich entgegen, | |
vielleicht ist die Zeit für diese Art von diskutierenden Großgruppen, die | |
Zeit eines bohemienhaften Lebensstils mit politischen Anliegen einfach | |
vorbei. Mag sein, entgegnet er. Es klingt nicht wirklich überzeugt. | |
## Schlüsselroman | |
Ist der Roman also eigentlich eine Dokumentation, bei der nur die Namen der | |
durchaus kenntlichen Figuren erfunden sind? Da lacht er ganz schelmisch – | |
Männer mit Locken, gleich welchen Alters, sehen immer wie Buben aus. In | |
Wien werden das alle als Schlüsselroman lesen, aber, und er strahlt über | |
das ganze Gesicht, die echten Personen sind nur der reelle Steinbruch, aus | |
dem er seine Romanfiguren modelliert. | |
Alle Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen sind sowohl zufällig als auch | |
beabsichtigt. Es geht um den Anschein von Authentizität. Die Ähnlichkeit | |
ist da eher das Vehikel, um die Fiktion zu transportieren. Also nicht | |
Dokumentation, sondern Realfiktion. | |
Bei der Frage nach seiner Arbeitsweise zeigt sich die Realfiktion | |
gewissermaßen in Aktion. Er hat natürlich einen Aufbauplan – kein Wunder | |
bei so vielen verwobenen Handlungssträngen und einem so üppigen Personal. | |
Aber die Figuren entwickeln ein Eigenleben. Man begegnet dann Leuten, so | |
Schindel, von denen man gar nichts wusste. „Begegnen“ ist in diesem | |
Zusammenhang ein schön realfiktiver Ausdruck. | |
Das sei eben der Unterschied zwischen dem literarischen und dem | |
journalistischen Schreiben: Man weiß vorher nicht, was passiert. Manche | |
Figuren ergeben sich ganz ungewollt. Es klingt so, als ob sich die Figuren | |
selber schreiben würden. | |
Und tatsächlich ist seine Rolle als Autor, so Schindel, die eines Ordners: | |
Er weist jeder Figur ihren Platz zu und schaut, dass keine die andere | |
verdrängt. Denn die sind ganz schön eigenwillig, diese Figuren. Sie wollen | |
auftreten und haben die Tendenz, aus dem Ruder zu laufen. | |
Wie etwa Margit, die unglücklich Liebende. Warum musste die unbedingt | |
Suizid begehen, frage ich. Ich konnt’s nicht verhindern, lautet Schindels | |
Antwort. Der Roman hat dementsprechend keinen durchgängigen Erzähler. Die | |
Ich-Perspektive wechselt vielmehr ständig, oft so schnell, dass man als | |
Leser wirklich aufpassen muss. | |
Schindel schreibt übrigens tatsächlich im Kaffeehaus. Als wäre er eine | |
Figur aus seinem eigenen Roman. Er sitzt dann mit seinem Laptop da wie in | |
einer Glocke. Das Geklapper der anderen Gäste liefert den passenden Sound | |
für die Begegnung mit seinen Figuren. | |
Im Roman gibt es dann eine Szene, in der ein Schriftsteller im Zartl sitzt | |
und schreibt. Fraul, der KZ-Überlebende, geht zufällig auf der Straße | |
vorbei, bleibt stehen, schaut durchs Fenster und sieht ihm direkt in die | |
dunklen Augen. Der Schriftsteller kann danach nicht mehr weiterschreiben. | |
„Ein verlorener Tag“, denkt er. Realfiktion, das ist, wenn die Figuren mit | |
ihrem Auftreten den Schriftsteller beim Schreiben stören. | |
Robert Schindel: „Der Kalte“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 665 Seiten, | |
24,95 Euro | |
19 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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