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# taz.de -- Kindercomics mit Anspruch: Monster im Blumenmeer
> Eine sprechende Kiste, ein Mitternachtsriese und schluffige Tierfiguren:
> Der Comicverlag Reprodukt startet eine anspruchsvolle Serie für
> Nachwuchsleser.
Bild: Sprechblasen mit Bildinhalt: Pelle und Bruno beim Gärtnern.
Viertausend Jahre hat die Riesin auf ihren Freund Jørgen gewartet. Nun
haben sie sich doch noch gefunden. Wir sind voller Zuversicht, dass es
nicht ganz so lange dauern wird, bis Comics auch in deutschen Kinderzimmern
als das geschätzt werden, was sie sein können: wunderbare Lektüre für
buchbegeisterte Kinder.
„Hilda und der Mitternachtsriese“ ist jedenfalls einer von sechs Titeln,
mit denen der Berliner Reprodukt-Verlag jetzt ein Kindercomic-Programm
startet. Ein unmögliches Vorhaben, sollte man zunächst denken, angesichts
der verzwickten Lage, in denen sich der Comic wohl immer noch befindet.
Einerseits als lustiger Kinderkram geziehen, steht er andererseits ja immer
unter dem bildungsbürgerlichen Verdacht, minderwertige Lektüre für
irgendwie (lese-)minderbemittelte Kinder zu sein.
Eine Skepsis, die sich auch die Kinderbucheinkäufer der Buchhandlungen
offensichtlich zu eigen gemacht haben. Warum aber Bilder in sogenannten
Bilderbüchern generell gut, in Comics aber generell schlecht für die
kindliche ästhetische Entwicklung sein sollten, ist nicht wirklich
nachzuvollziehen. Dass es nämlich herrliche, aktuelle Bildwelten außerhalb
der Lustigen Taschenbücher und den klassischen franko-belgischen
(Jugend-)Serien wie Tim und Struppi, Asterix oder Spirou gibt, zeigt schon
ein erster Blick auf die nun von Reprodukt ausgewählten Titel im
variierenden Buchformat.
Schließlich ist es dem Berliner Verlag nach vielen Jahren des geduldigen
Missionierens ja auch schon gelungen, den Erwachsenencomic salonfähig zu
machen, als „Graphic Novel“ hat sich der Comic eine neue Leserschaft
erschlossen. „Graphic Novels for Kids“ sind es glücklicherweise aber nicht
geworden, die nun erscheinen – manche der Kindercomics haben gleich gar
keinen Text.
Aus dem comicaffinen Frankreich kommt der heiterste (wortlose) Charakter:
ein kleiner, verwuschelter und vollkommen schwarzer Knirps namens „Kleiner
Strubbel“ (Video). Strubbel ist ein ausgesprochen fantasiebegabter
Draufgänger mit dem Hang zur Selbstüberschätzung. Wenn er nicht weiterweiß,
holt er stets reumütig das Foto von sich und seiner Mutter aus der Tasche.
Dank seiner Kontaktfreudigkeit findet er aber immer Freunde, die ihm aus
der Patsche helfen.
Der gute Laune verströmende Comic lebt von seinen farbenfrohen,
fantastischen Landschaften und der expressiven Mimik und Gestik seiner
Charaktere. Im Auftaktband der Serie, „Trubel im Gemüsebeet“, hat es uns
ganz besonders eine ausgesprochen missgünstige und schadenfrohe
anthropomorphe Wespe angetan, die dort zunächst Jagd auf andere Wiesentiere
macht. Daran kann man sich auch als mitschauender Erwachsener durchaus
mehrfach erfreuen.
Versöhnlich endet letztlich auch der Streit zwischen Hund und Katz in
„Pelle und Bruno“, bei dem es, mal auf die reale Welt hochgebrochen, um die
Mühsal konventioneller Anbaumethoden versus die Versprechungen der
agrochemischen Industrie geht. Eine wilde Flucht vor Riesenbohnenstauden
und Monsterwürmern später freut man sich bei einem Kakao über ein
Blumenmeer. Besonders charmant sind dabei die vom deutschen Comic- und
Kinderbuchzeichner Ulf K. gestalteten Sprechblasen, die wiederum
ausschließlich mit Bildern arbeiten. Denn so gern wir Comics selber lesen,
das Vorlesen von Sprechblasen kann ja doch recht mühsam sein.
Zum Selberlesen für Kinder allerdings fast zu schade ist dagegen „Ariol“,
eine Sammlung von Zehnseitern aus dem Leben des jungen Grundschul-Esels
Ariol von Emmanuel Guibert und Marc Boutavant. Guibert, der in Deutschland
bisher für seine politischen Erwachsenencomics bekannt ist („Reisen zu den
Roma“), und Boutavant gelingt hier eine präzise und hochamüsante
Beobachtung der Parallelwelten, in denen Kinder und Eltern oft
nebeneinander existieren.
Man denke etwa an das vollkommen andere Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sich
Kinder offenbar nicht nur beim morgendlichen Aufstehen befinden, die
Ernsthaftigkeit, mit der Superheldenwelten nachgelebt werden, oder das
vollkommenen Versagen im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Die karikierten
leicht krakeligen Tierfiguren sehen dabei herrlich schluffig aus.
Deutlich niedlicher ist dagegen der Bär „Mouk“ ebenfalls von Mark Boutavant
geraten. Die alltäglichen Erlebnisse von Mouk und seinen anderen
Tierfreunden muten in ihrer Farbigkeit und ihrem Wechsel zwischen
ganzseitigen und eher comichaften Darstellungsweisen fast ein bisschen
altmodisch an.
In guter Comic-Tradition hat man sich seitens des Verlags also für eine
Vielfalt menschlicher Tierfiguren entschieden. Auffällig sind darüber
hinaus aber die zahlreichen männlichen Charaktere, und dafür hat man bei
Reprodukt eine interessante Begründung. Nicht die vielbejammerte
Lesefaulheit von Jungen war ausschlaggebend, sondern eine lesepädagogische
Beratung im Vorfeld: Mädchen, so war dort zu erfahren, können sich nämlich
prima auch mit männlichen Protagonisten und ihrem Tun identifizieren,
umgekehrt klappe das meist nicht.
Eine Erfahrung, die beim Beobachten von Rollenspielen ja auch oft zu machen
ist. Ob Mädchen sich also für Mattis und seine erstaunliche Zauber-„Kiste“
von Patrick Wirbeleit & Uwe Heidschötter werden begeistern können, darf
also mit Interesse verfolgt werden.
Ganz sicher werden nicht mehr ganz junge Mädchen von dem deutlich
unheimlicheren und einzig im großen Comic-Album-Format erscheinenden „Hilda
und der Mitternachtsriese“ begeistert sein. Wenn auch auf sehr vermittelte
Weise, geht es hier, wie oben angedeutet, eben auch um wahre Liebe.
26 Apr 2013
## AUTOREN
Katja Lüthge
## TAGS
Kinder
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