| # taz.de -- Gelungener Comic-Debutroman: Ockerfarbene Jugend | |
| > Gefühle der Hilflosigkeit in einer surrealen Welt: Lukas Jüliger ist mit | |
| > „Vakuum“ ein grandios düsterer Comicroman über das Erwachsenwerden | |
| > gelungen. | |
| Bild: Der Ich-Erzähler und das Mädchen mit den Kulleraugen | |
| HAMBURG taz | Genau 210 stumpfe Bleistifte später hockt er im Chaos und | |
| reibt sich die Augen. „Ich bin müde“, sagt Lukas Jüliger. Der 24-Jährige | |
| wohnt und arbeitet im Hamburger Stadtteil Altona, trägt einen Schal um den | |
| Hals und einen Bart im schmalen Gesicht. Der Tisch ist klebrig und voller | |
| Zeichnungen, auf dem Boden liegen eine Gabel, eine Bohrmaschine, | |
| Gummistiefel; überall stehen Kaffeetassen und Bierflaschen. „Sorry, hatte | |
| keine Zeit zum Aufräumen“, sagt Jüliger. „Ich tauche gerade erst wieder | |
| auf.“ | |
| Zwei Jahre lang hat er an seinem Comic-Debüt „Vakuum“ gearbeitet, | |
| mindestens zwölf Stunden am Tag. Bevor er mit der Arbeit begann, hat er | |
| Illustration an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften | |
| studiert, aber in der Uni war er seit zwei Jahren nicht. Der Titel ist | |
| symptomatisch, er selbst sei während der Schaffensphase ebenfalls in einem | |
| Vakuum gewesen. „Ich war wie eine Maschine“, sagt er. Und die entstandene | |
| Graphic Novel zeigt meisterhaft, was mit diesem Medium alles möglich ist. | |
| „Vakuum“ handelt von den ersten und letzten Tagen des Sommers in einem | |
| Kaff: Die Jugendlichen in Jüligers Comic umgibt schon zu Beginn etwas | |
| Bedrohliches. Der Ich-Erzähler mit Strubbelfrisur und Kapuzenpulli | |
| beobachtet eines Morgens, wie der Außenseiter seiner Schule eine Matratze | |
| in den Wald trägt. | |
| Er ist ein unscheinbarer Junge mit Locken – der eines Tages das beliebteste | |
| Mädchen der Schule fesselt, vergewaltigt und sich im Wald auf der Matratze | |
| umbringt. Als er später auf einem Obduktionstisch liegt, scharen sich seine | |
| Mitschüler um ihn und zücken ihre Smartphones. Es ist die makaberste Szene | |
| des Comics. | |
| ## Betörender Geruch | |
| Der Ich-Erzähler ist auf der Suche nach Antworten in einer Welt, die nur | |
| Fragen aufwirft. Und nach einem Mädchen mit schwarzen Haaren. Beide sind | |
| Jüligers namenlose Hauptfiguren. Der Ich-Erzähler ist betört vom Geruch des | |
| Mädchens mit den Kulleraugen, das ständig verschwindet und etwas vor ihm | |
| verbirgt, was ihn schier in den Wahnsinn treibt. | |
| So mysteriös wie das Mädchen ist der gesamte Comic: Anfangs noch recht | |
| real, driftet er Szene für Szene immer weiter ins Surreale und Diffuse ab. | |
| So manches bleibt bis zuletzt in der Schwebe. | |
| Man kann „Vakuum“ als eine nebulöse Coming-of-Age-Geschichte bezeichnen, | |
| aber letztlich bleiben die Jugendlichen in ihrer Adoleszenz stecken, ja | |
| entwickeln sich sogar zurück, was Jüliger mit vielen Symbolen illustriert. | |
| Zum Beispiel als der Protagonist mit der Strubbelfrisur seine alte | |
| Spielsachen entdeckt und das kindisch bejubelt. | |
| Freude findet man in Jüligers Debüt nur selten. Es ist düster, trieft | |
| beizeiten vor Hass auf die Welt. „Bei dem Schreibprozess war sehr viel Wut | |
| in mir“, sagt Jüliger. Was einen im Comic ständig begleitet, ist ein Gefühl | |
| der Hilflosigkeit und des Verlorenseins in einer Welt, die vor dem Abgrund | |
| steht, ein Gefühl, das Jüliger selbst in seiner Jugend verspürt habe, wie | |
| er sagt, das er jedoch nicht einordnen könne. „Endzeitstimmung, so würde | |
| ich es vielleicht nennen.“ | |
| ## Leerstellen und feine Striche | |
| „Vakuum“ ist so grandios, weil der Comic so viele Leerstellen lässt, die | |
| der Leser mit seiner Fantasie füllen kann. „Ich mag es nicht, wenn | |
| Regisseure alles erklären“, sagt Jüliger. Sein Zeichenstil setzt sich | |
| zusammen aus feinen, geschwungenen Strichen und düsteren Farben; der Comic | |
| wird dominiert von Ockertönen. Es ist eine gelungene Symbiose aus Text und | |
| Bild, denn auch die Dialoge sitzen. „Ich bin der langweiligste Mensch der | |
| Welt!“, sagt der Ich-Erzähler zu seiner Mutter. Die antwortet: „Das stimmt | |
| nicht. Den Rekord hält dein Vater.“ | |
| Eine der stärksten Szene ist die, in der das namenlose Mädchen ihre Eltern | |
| und ihr Zuhause beschreibt. „Ich hasse diesen Ort. Und ich hasse meine | |
| Eltern. Sie haben aufgegeben“, sagt sie. Jeden zweiten Tag machen sie einen | |
| Spieleabend mit Freunden, die genauso sind wie sie. „Spätabends sind sie | |
| dann alle betrunken und lachen über Scheiße, die nicht lustig ist.“ Bei all | |
| der Absurdität des Comics zeigt sich hier die Angst, die viele | |
| Heranwachsende kennen: so zu werden wie die eigenen Eltern. | |
| Gut möglich, dass viele Aspekte seines Comics autobiografisch seien, sagt | |
| Jüliger. Die Geschichte spielt in einer Kleinstadt, er selbst ist in Bad | |
| Neuenahr, einem kleinen Ort zwischen Bonn und Koblenz, aufgewachsen. | |
| „Letztlich bin das alles ich, all die Charaktere sind Teile von mir.“ | |
| Vorerst habe er genug vom Zeichnen, sagt Jüliger, denn seine Kreativität | |
| sei gegen Ende hin erschöpft. Das Studium der Illustration an der Hamburger | |
| Hochschule für Angewandte Wissenschaften wolle er jetzt wieder aufnehmen. | |
| „So ein bisschen sozialer Alltag wäre nicht schlecht nach zwei Jahren“, | |
| sagt Jüliger, blickt durch sein chaotisches Zimmer und grinst. | |
| Lukas Jüliger: Vakuum; Reprodukt, Berlin 2013; 112 Seiten, 20 € | |
| 13 Feb 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Amadeus Ulrich | |
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