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# taz.de -- Graphic Novel „Jimmy Corrigan“: Anruf vom unbekannten Vater
> Chris Wares Graphic Novel „Jimmy Corrigan“ handelt von einem isolierten
> Mittdreißiger, getrieben von Ängsten und Zwängen – eine Erzählung voller
> Humor.
Bild: Tagträume vom Vatermord: Mit Jimmy Corrigan (rechts) ist nicht alles in …
Jimmy Corrigan ist ein pummeliger Junge mit großem Kopf und schütterem
Haar, dem sich schon im Kindesalter die Sorgenfalten eines alten Mannes ins
Gesicht gegraben haben. Jetzt mit Mitte dreißig führt der plumpe
Büroangestellte das isolierte Leben eines tagträumenden, von Zwängen und
Ängsten getriebenen Außenseiters, sein soziales Leben beschränkt sich auf
das tägliche Telefonat mit seiner Mutter.
Eines Tages reißt ihn der Anruf seines unbekannten Vaters aus dieser
Lethargie – tatsächlich schafft es Jimmy, ihn zu besuchen. Aber auch dieser
Versuch einer späten zwischenmenschlichen Beziehung offenbart einmal mehr
die vollkommene Unmöglichkeit, das monadische Ich in Richtung eines anderen
zu öffnen.
In parallel montierten Erzählungen über seine männlichen Vorfahren entpuppt
sich die ganze Trostlosigkeit von Jimmys Dasein als quasi epigenetisch
vererbte Gefühlshärte, Einsamkeit und tief empfundene Sinnlosigkeit. Eine
atemraubende Mut- und Hoffnungslosigkeit liegt auf diesen fantastisch
gezeichneten fahlfarbenen Welten. Eine Tristesse, die von der akribischen
Darstellung seelenloser, seltsam unpersönlicher Wohnräume auf die Spitze
getrieben wird.
Es ist zehn Jahre her, dass der US-amerikanische Comiczeichner Chris Ware
mit seinem epischen Werk über die zuvor seit zehn Jahren teilweise in
seinen „Acme Novelty Library“-Büchlein vorveröffentlichten „Jimmy
Corrigan“-Erlebnisse für Furore sorgte. Nun hat der Verlag Reprodukt die
lange erhoffte deutsche Übersetzung des mit Lobeshymnen und Preisen
förmlich überschütteten „Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“
herausgebracht.
Das ist umso verdienstvoller, als Chris Ware mit seiner delikaten
Farbgebung, den ungewöhnlichen Buch- und Heftformaten und dem unbedingten
Handlettering eine echte Herausforderung für jeden Verleger darstellt. In
Berlin und Leipzig stellte der scheue Ware das Buch jetzt dem Publikum vor.
## Teilweise autobiografisch
Jimmy Corrigan, so hat sein Autor stets eingeräumt, ist teilweise
autobiografisch. Das Außenseitertum, die beschriebenen Quälereien durch
Mitschüler beruhen offensichtlich auf schmerzlichen eigenen
Schulerfahrungen. Und soweit das auf Porträtfotos von Chris Ware immer zu
erkennen war, existiert auch durchaus eine äußerliche Ähnlichkeit zwischen
Autor und Figur, der sehr lange große Kopf mit den wenigen Haare ist bei
beiden recht prägnant.
Vielleicht ist deshalb so überraschend, nun einen sehr großen, hageren und
schlaksigen Chris Ware auf der Bühne zu sehen, dessen fast gummiartig
wirkende Gelenkigkeit ihm die erstaunlichsten Verknotungen erlaubt. Die das
Mikrofon haltende Hand ist jedenfalls interessant zwischen die
überschlagenen Beine gewickelt, und manchmal wirkt er, als wolle er sich
gleich in eine sehr kleine Kiste zwängen. Das Unwohlsein angesichts des
öffentlichen Auftretenmüssens hätte keine Karikatur besser ausdrücken
können.
Die Performance des 1967 in Omaha/Nebraska geborenen Künstlers bestärkt den
Leseeindruck: Es wirkt, als hätte Chris Ware eine herausragende Begabung,
Depression und Verzweiflung wahrzunehmen und künstlerisch umzusetzen, aber
große Schwierigkeiten, so etwas wie Heiterkeit, Leichtigkeit oder Glück zu
denken. Beinahe manisch akkurat sind seine Zeichnungen, die zwar wie am
Computer entstanden wirken, tatsächlich aber von Ware sämtlich mit
Bleistift und Tusche zu Papier gebracht werden. Kleinteilige Panels mit
variierender Blickführung verbildlichen die ganze bedrückende und scheinbar
ausweglose Enge.
Nur selten gönnt „Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“ seinen
Lesern ein Durchatmen wie angesichts der akribisch nachempfundenen
Erhabenheit der Architektur für die Chicagoer Weltausstellung von 1893.
Dabei ist Chris Ware durchaus zu Humor in der Lage, den versteckt er aber
gern in den aufwendig im Stil alter Illustrierter gestalteten Anfangs- und
Endseiten. Seine winzig klein gesetzten vermeintlichen Werbeanzeigen,
Leserbriefe oder Gebrauchsanweisungen sind reich an Ironie und Sarkasmus.
Es ist eher Schadenfreude, die eine frühere, an „Krazy Kat“ von George
Herriman erinnernde Figur Wares auszeichnet: „Quimby the Mouse“. Auf
riesenformatigen abenteuerlichen Tableaus aus dem Raster geratener Panels
tanzt diese eher rücksichtslose Maus über die Seiten. Bei genauerem
Hinschauen – und das verlangt Ware seinen Lesern stets ab – offenbart sich
aber auch hier die ganze Tragik des (Mäuse-)menschlichen Daseins.
## Entdeckt von Art Spiegelman
Zuerst in einer Studentenzeitung in Austin, Texas veröffentlicht, werden
die „Quimby“-Episoden dort 1987 von Art Spiegelman für sein RAW-Magazin
entdeckt. Beide Künstler verbindet fraglos ihr großes Wissen über die
Comic-Historie und die große Liebe zur US-amerikanischen Populärkultur und
insbesondere zum Comic, die sie immer wieder die narrativen und
ästhetischen Grenzen des Mediums hat verschieben lassen. Gleichwohl ist
Chris Ware eine gewisse Nostalgie zu eigen. Aber sosehr er offensichtlich
die Architektur und Kunst der vorletzten Jahrhundertwende liebt, Pocken und
die heutige ärztliche Versorgung sprächen eindeutig für ein Leben im 21.
Jahrhundert.
Chris Ware wohnt seit 1991 in Chicago, und seit der Geburt seiner Tochter
vor einigen Jahren, die er im Verlauf des Podiums in Berlin auch immer
wieder zitiert, scheint er um einen optimistischeren und selbstbewussteren
Blick auf die Welt bemüht. Bemerkenswerterweise tut er das aus der Sicht
einer lange Zeit unglücklichen, einseitig unterschenkelamputierten Frau,
die mal Kunst studiert hat.
„Building Stories“ heißt das erstaunliche Konvolut, das in einer großen,
schweren Schachtel geliefert wird. Darin eine Sammlung von Alben, Heftchen,
Ministrips und alten Sonntagsseiten nachempfundenen DIN-A2-Faltblättern,
die verschiedene Momente aus dem Leben der unsicheren namenlosen Floristin
und späteren Mutter aufgreifen.
Und hier, am untersten Rand einer dieser Riesenseiten, steht der
tröstlichste und versöhnlichste je von Chris Ware veröffentlichte Satz:
„Finally. I am happy“.
Chris Ware: „Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“. Deutsch von
Anders/Hohl. Handlettering Michael Hau. Reprodukt, Berlin 2013, 384 Seiten,
39 Euro.
16 Apr 2013
## AUTOREN
Katja Lüthge
## TAGS
Comic
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