Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Autobiografisches in Graphic Novels: Die Sache mit der Salatgurke
> Lebensgeschichten in Bildern: „Mein Freund Dahmer“ von Derf Backderf über
> einen Mörder und Birgit Weyhes Familienstück „Im Himmel ist Jahrmarkt“.
Bild: Dem Wahnsinn nahe: Eric Dahmer an der Highschool.
Es ist schwer auszumachen, wann Jeffrey Dahmer endgültig abgehängt wurde.
Wann der Wahn aus Dahmer, der Außenseiterexistenz, wie es sie an jeder
Highschool der USA mehrfach gibt, Dahmer, den Massenmörder machte, der
zwischen 1978 und 1991 mehr als ein Dutzend junger Schwuler tötete und zum
Teil verspeiste.
Derf Backderf, in den USA ein populärer Cartoonist, kümmert sich in „Mein
Freund Dahmer“ nicht um die Morde des „Milwaukee Cannibal“, sondern um
seine Jugend. Denn Backderf war auf der Revere Highschool in Akron, Ohio,
noch am ehesten so etwas wie ein Freund von Jeff Dahmer. Wobei,
Freundschaft? Backderf und seine eigentlichen Freunde verehrten Dahmer als
eine Art Kultobjekt, weil er unnachahmlich gut Menschen mit spastischen
Störungen imitieren konnte.
Dass Dahmer das durch Beobachtungen seiner schwer medikamentenabhängigen
Mutter gelernt hatte, wusste indes keiner. Und dass seine Eltern sich
permanent stritten und er mit dem Problem seiner aufkommenden, in der
US-amerikanischen Provinz unmöglich auszulebenden Homosexualität
alleingelassen wurde, zusätzlich zu seinen nicht eindeutig zu definierenden
sozialen Defiziten, dass Dahmers Leben also schon früh eine Hölle war, die
er nur mit massivem Alkoholkonsum auch während der Schulzeit ertrug – auch
das kümmerte niemanden, keine Schüler, keine Lehrer, nicht einmal die
Eltern.
Backderf arbeitet den Fall in kurzen Episoden auf, etwa Dahmers Versuche,
tote Tieren in Säure aufzulösen, einen Angelvorfall, den missratenen
Auftritt beim Abschlussball – aber auch kurze Zwischenhochs wie eine
Klassenfahrt nach Washington, wo Dahmer es schaffte, einen Besuch im Büro
des Vizepräsidenten zu organisieren. Backderf beherrscht sein Handwerk,
seine Erzählweise ist unspektakulär, aber äußerst fesselnd, wie ein Film
fährt die Pubertät Dahmers am Betrachter vorbei. Neben der persönlichen
Ebene gelingt Backderf auch ein Stimmungsbild des Highschoollebens in der
Midwest-Provinz in den späten 70ern.
Erschienen ist „Mein Freund Dahmer“ bei Walde + Graf, das nach seinem
Aufkauf durch den Aufbau-Verlag in den Anfang 2013 neu gegründeten
Metrolit-Verlag integriert wurde. Metrolits bisheriges
Graphic-Novel-Programm zeichnet sich durch Anspruch und eine gewisse
Schwere aus, soziale und politische Themen dominieren. Es geht um
Aussteiger, 68er, den Aufstand vom 17. Juni 1953. Erzählung und Inhalt
gehen hier häufig vor Ästhetik, der Text ist wichtiger als die Grafik.
Mit dieser Ausrichtung ähnelt Metrolit dem kleinen Avant-Verlag, der schon
seit über elf Jahren den schweren Weg geht, die immer noch kleine
Leserschaft von ernsten Graphic Novels zu bedienen. Er setzt dabei
allerdings stärker ästhetische Akzente. Gerade ist bei Avant ein ebenfalls
autobiografisch orientierter Comic erschienen, wenngleich mit einem ganz
anderen Hintergrund: Birgit Weyhe beschreibt in „Im Himmel ist Jahrmarkt“
keine medienbekannte Figur, sondern ihre eigene Familie.
## Recherche im Stilmix
Wo bei Backderf die Nachrichtenmeldung von Dahmers Tod der Auslöser für
seine Biografiearbeit ist, ist es bei Weyhe eine Hausaufgabe ihrer Tochter.
Wo Backderf eine klare, stilistisch sehr comichafte, narrativ aber
sachliche Bildsprache wählt, ist Weyhe illustrativer und arbeitet in ihren
Bildern mit verschiedenen Stilen, mit Details und wilden Assoziationen.
Und wo Backderf akribisch Recherchen mithilfe von Zeitungsarchiven,
FBI-Akten, alten Fernsehinterviews und persönlichen Gesprächen betrieben
hat, die säuberlich im ausführlichen Anhang nachvollzogen werden können,
hatte Weyhe nur einige alte Fotos und Anekdoten. Den Rest musste sie sich
zusammenpuzzeln – Leerstellen hat sie im Zweifel mit plausibler Fantasie
gefüllt.
Weyhe, Jahrgang 1969, beschreibt die Generation ihrer Großeltern, die
zwischen 1894 und 1913 geboren wurden. Da ist Marianne, die Mutter des
Vaters, sehr fortschrittlich für ihre Zeit: Mit den Nonnen in der Schule
legt sie sich an, eröffnet ihren eigenen Hutmacherladen, hat als erste Frau
in München einen Führerschein. Nur mit den Männern hat Marianne kein Glück,
der Vater von Sohn Michael lässt sie früh im Stich – im Buch bleibt er ein
Schatten, über den es nur eine Anekdote mit einer Salatgurke zu erzählen
gibt.
Dann ist da Herta, die Mutter der Mutter, eine laute, derbe Berlinerin. Die
Liebe ihrer Jugend darf sie nicht heiraten, der Vater, ein Fabrikbesitzer,
droht mit der Enterbung. Ein Ungar mit Adelstitel muss es stattdessen sein.
Herta lässt es über sich ergehen. Ihren zweiten Mann Edgar, 20 Jahre älter
und Wehrmachtsoffizier, aber keiner von der schlimmen Sorte, lernt sie auf
der Flucht vor der Roten Armee kennen. Edgar entpuppt sich nach dem Krieg
als großzügiger Feingeist. Weyhes Erinnerungen an gemeinsame
Cowboy-und-Indianer-Spiele werden gegen den Geiz von Oma Herta, die
Ernährerin der Familie, gestellt.
## Unerfüllte Wünsche
Als Bonusfigur wird noch Carl vorgestellt, der jüngere Bruder Edgars, der
der jungen Birgit Weyhe als ein Ausbund an Strenge erscheint. Doch seine
Biografie erklärt sein Wesen: Im Vorschulalter verweigert der militärisch
geprägte Vater Carl die Liebe. Später muss er wegen seiner Homosexualität
ins Zuchthaus. Zurück bleibt ein seelisches Wrack, hart zu seinen
Mitmenschen, noch härter zu sich selbst.
Doch haben alle vier Leben ihre Traumata, ihre unerfüllten Wünsche, machen
möglicherweise falsche Kompromisse. Neben den wichtigsten biografischen
Ereignissen werden Anekdoten erzählt, etwa vom Schulranzenkauf mit Oma
Herta, von einer Puppenverbrennungsaktion, von einer Reise von Oma Marianne
und ihrer Schwester nach Uganda, wo Birgit Weyhe aufgewachsen ist.
Besonders bemerkenswert ist, wie Weyhe das alles in Szene setzt.
Zwischen die einfachen Bilder, mit denen sie die Erzählebene vorantreibt
und die ein wenig klobig daherkommen, mischt Weyhe zahllose Details und
Symbole für die Innenansichten ihrer Charaktere. Texttafeln, Zeichnungen im
Stil alter Biologielexika, organische Formen, Kleckse, expressionistische
Fratzen, Holz- und Scherenschnitte, vieles in Weiß auf einem schwarzen
Hintergrund. Eine grafisches Vielfalt, die auch beim dritten, vierten Lesen
noch Entdeckungen verspricht.
Das alles macht „Der Himmel ist Jahrmarkt“ zu einer grandiosen
Familienbiografie, die zugleich auch die deutsche Geschichte der letzten
100 Jahre widerspiegelt. Doch der Band ist zugleich ein Appell: Schaut in
eure Familien, ruft er aus, hört euch die Geschichten eurer Verwandten an,
fragt, solange ihr noch könnt. Denn auch wenn dort keine Massenmörder
herumlaufen, bietet doch beinahe jedes Leben eine spannende Geschichte,
bietet Sehnsüchte und Wünsche, bietet Brüche, Zufälle und Richtungswechsel,
gerade bei den Übriggebliebenen jener Generationen, die noch von den
Weltkriegen betroffen waren.
Den Geschichtenerzählern dieser Welt wird ihr Stoff so niemals ausgehen.
29 Jul 2013
## AUTOREN
Michael Brake
## TAGS
Graphic Novel
Homosexualität
Comic
Comic
Comic
Comic
Piraten
Kinder
Comic
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neue Comics: Meister der leisen Töne
Sie handeln von jungen Außenseitern, Dementen und Eremiten, und sie lohnen
die Lektüre: drei Graphic Novels aus Spanien.
Comics für Kinder: Farbenpracht und feiner Humor
Ob Ketchup, Duden oder Rotkäppchen: Drei Graphic Novels für junge Leser
beschreiben die Welt auf unkonventionelle Weise.
Comic-Kunst aus Italien: Science-Fiction, die schwebt
In „Die Übertragung“ erzählt der italienische Zeichner Manuele Fior eine
Geschichte aus der Zukunft. Die schwarz-weißen Bilder sind zart und subtil.
Der britische Comicautor Luke Pearson: „Als Kind sah ich noch Riesen“
Luke Pearson, für zwei Eisner Awards nominiert, über den Verlust der
Fantasie beim Erwachsenwerden, die Vorteile des Lebens in der Stadt und
seine Hilda-Comicreihe.
Comic „Die Insel der 100.000 Toten“: Trockener Humor auf großer Fahrt
Piraten oder Henker? Fabien Vehlmann und Jason erzählen in ihrer Graphic
Novel von einer sehr ungewöhnlichen Bildungseinrichtung.
Kindercomics mit Anspruch: Monster im Blumenmeer
Eine sprechende Kiste, ein Mitternachtsriese und schluffige Tierfiguren:
Der Comicverlag Reprodukt startet eine anspruchsvolle Serie für
Nachwuchsleser.
Graphic Novel „Jimmy Corrigan“: Anruf vom unbekannten Vater
Chris Wares Graphic Novel „Jimmy Corrigan“ handelt von einem isolierten
Mittdreißiger, getrieben von Ängsten und Zwängen – eine Erzählung voller
Humor.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.