# taz.de -- Neue Comics: Meister der leisen Töne | |
> Sie handeln von jungen Außenseitern, Dementen und Eremiten, und sie | |
> lohnen die Lektüre: drei Graphic Novels aus Spanien. | |
Bild: Zeichnung aus „Kopf in den Wolken“ von Paco Rocas. | |
Der spanische Comic führt im europäischen Kontext von jeher ein | |
Nischendasein, wird der Markt doch traditionell von der frankobelgischen | |
Konkurrenz dominiert. Jedoch gibt es seit Jahren eine professionelle, | |
vitale Szene, die immer wieder eigenwillige Autoren und herausragende | |
Zeichner hervorbringt. | |
Die „Geschichten aus dem Viertel“ von Gabi Beltrán und Bartolomé Seguí | |
zeigen die Schattenseite der Insel Mallorca, bevor sie sich zum | |
Urlaubsparadies entwickelt hat, denn sie führen uns ins Jahr 1980, ins | |
Barrio Chino, einem ärmlichen Viertel der Hauptstadt Palma. Hier wurden | |
Kinder früher erwachsen, als sie eigentlich wollten. Die Protagonisten sind | |
Jugendliche, Kinder von Prostituierten, Säufern, Junkies, Schlägern. Ein | |
Aufwachsen in diesem sozialen Brennpunkt führte fast zwangsläufig zur | |
Verrohung, zu eigenen kriminellen Handlungen, zu einer Drogenkarriere und | |
bei einigen zum verfrühten Tod. | |
Es wirkt authentisch, wenn sich die Jugendlichen abends im Rotlichtbezirk | |
herumtreiben und dabei gewisse Tabuzonen meiden, weil es etwa das „Gebiet“ | |
der Mutter eines Kumpels ist. Der Leser fiebert mit, wenn sich die aus | |
unterschiedlichen, nicht immer sympathischen Charakteren bestehende Bande | |
auf kriminelle Aktionen einlässt – weniger aus der Not heraus, als um die | |
Langeweile zu vertreiben. | |
Der Sog dieses Tatsachen-Berichts zieht den Leser immer tiefer in die | |
Gefühlswelt des jugendlichen Erzählers hinein, für den kaum Hoffnung | |
besteht, seinem Milieu zu entkommen. Gabi Beltrán (geboren 1966), auf | |
dessen Erinnerungen das Buch beruht, hat es geschafft, er wurde | |
Illustrator. | |
## Lebendiger Strich | |
Beltrán ließ sich vom ebenfalls aus Mallorca stammenden Zeichner Bartolomé | |
Seguí dazu überreden, eine Graphic Novel aus seinen (zunächst in einem Blog | |
veröffentlichten) Erzählungen zu machen und beschränkte sich auf das | |
Szenario. Seguí setzte die Texte überzeugend um, mit leichtem, lebendigem | |
Strich, in gedämpften Farben, und offenbart ungewohnte Blickwinkel der | |
Insel, vor allem der Altstadtgassen Palmas. Verbunden werden die Episoden | |
durch einen literarischen Bericht Beltráns, der vom Tod seines Vaters | |
handelt und Erinnerungen evoziert. | |
Der galicische Zeichner Miguelanxo Prado, Jahrgang 1958, gehört zu den | |
unbestrittenen Meistern des europäischen Comics. In seinen grafischen Short | |
Storys „Der tägliche Wahn“ nahm er bereits vor Jahren seine Landsleute mit | |
bösem Humor ins Visier: Selten wurden Spießer, Beamte, Bauern, Ehemänner | |
und Würdenträger jeder Art saftiger bloßgestellt. Entgleisende Gesichtszüge | |
und leicht verzerrte Architekturen wurden sein Markenzeichen. Nun hat Prado | |
seine erste umfangreiche Graphic Novel vorgelegt: „Ardalén“. | |
In seiner Fabulierlust erinnert sie an die Literatur des | |
lateinamerikanischen Magischen Realismus. Die realistische Erzählung über | |
die etwa 35jährige Sabela, die in einem abgelegenen Bergdörfchen mehr über | |
ihren ausgewanderten Großvater Francisco, einen Seefahrer, erfahren möchte, | |
wird leise von fantastischen Elementen unterwandert. In einer Dorfkneipe | |
wird Sabela von Einheimischen auf den Eremiten Fidel verwiesen, der | |
ungefähr so alt wie ihr Großvater ist und mehrere Schiffbrüche überlebt | |
haben soll. Der liebenswerte Greis erweist sich als unzuverlässiger | |
Erzähler, der von Geistern der Vergangenheit heimgesucht wird. | |
Prado erzählt gewitzt auf verschiedenen Zeitebenen, wechselt oft die | |
Perspektive, verwendet Dokumente, alte (gezeichnete) Fotos, Karten, | |
Magazinartikel, die das Erzählte belegen oder auch aus den Angeln heben. | |
Der Leser ist gefordert, sich seinen Reim auf die Erinnerungen Fidels und | |
anderer Beteiligter zu machen. | |
Entstanden ist so ein erzählerisch reicher Comicroman mit erstaunlich | |
tiefgründigen Charakterporträts – vor allem die urigen Einheimischen sind | |
herrlich hintergründig geraten und von einer Lebendigkeit, wie sie nur | |
wenige Zeichner erschaffen können. Durch seine Pastellkreidentechnik ist | |
das Buch auch visuell ein großes Vergnügen. | |
## Menschen im Altersheim | |
Nach „Der Winter des Zeichners“ erscheint mit „Kopf in den Wolken“ nun … | |
weiteres Werk Paco Rocas (Jahrgang 1969) auf Deutsch. Die Geschichte mit | |
dem Originaltitel „Arrugas“ (Falten) handelt von Menschen in einem | |
Altersheim und zeichnet exemplarisch den Verlauf der Krankheit Alzheimer | |
nach. Ein nicht gerade erfolgsträchtiges Thema, möchte man meinen. | |
Und doch wurde das Buch ein Renner in Spanien und Frankreich, zog gar eine | |
Verfilmung als klassischer Zeichentrickfilm nach sich. Roca schafft es mit | |
unaufdringlichen Zeichnungen, seine Geschichte vollkommen unsentimental zu | |
erzählen. Auch narrativ gelingt ihm ein Meisterwerk, jede Szene ist | |
durchkomponiert, jedes Bild sitzt. | |
## Bank und Schlafzimmer | |
Die erste Seite etwa zeigt Emilio, wie er als Bankangestellter mittleren | |
Alters ein Pärchen berät. Auf der nächsten Seite wird die Szene als | |
subjektive Fantasie entlarvt: Man erkennt, dass sich der schon weißhaarige | |
Emilio in seinem Schlafzimmer befindet, vor ihm kein Kundenpaar, sondern | |
sein Sohn zusammen mit seiner Frau. | |
Wenige Bilder später weist das überforderte Paar den zur Last gewordenen | |
Alten in ein Heim ein. Der Rest des Buches spielt fast ausschließlich in | |
den sterilen Räumlichkeiten – und doch geschehen am laufenden Band | |
abwechslungsreiche, amüsante Dinge. Emilio schließt schnell Freundschaft | |
mit seinem Zimmergenossen Miguel, einem Schlawiner alter Schule, der noch | |
gut beisammen und auch nicht darum verlegen ist, manch verwirrtem Patienten | |
„Gebühren“ für Informationen abzuknüpfen. | |
Doch Miguel stellt sich schließlich als gute Seele heraus, der sich nicht | |
mit dem Dahinvegetieren abfinden will. Auch Emilio ist schockiert | |
angesichts der fortgeschrittenen Demenz-Fälle, die eine Etage höher | |
logieren, und äußert den Wunsch, so nicht enden zu wollen. | |
Die Geschichte lebt von authentischen Details, die Roca in seinem | |
Bekannten- und Verwandtenkreis sowie durch die Recherche in einem | |
Seniorenheim gesammelt hat. Es entfaltet sich eine Erzählung, die der | |
Krankheit komische Seiten abgewinnt, ohne deren Tragik herunterzuspielen. | |
Trotz der bitteren Begebenheiten, die im Heim-Alltag passieren, gelingt | |
Roca ein leichter Tonfall, der die Geschichte genießbar und berührend macht | |
und gleichwohl zum Nachdenken anregt. | |
Die nun ins Deutsche übertragenen Graphic Novels spanischer Künstler | |
zeigen, dass es nicht nur der Literatur obliegt, gesellschaftlich relevante | |
Themen künstlerisch anspruchsvoll aufzubereiten. Zeitgenössische | |
Geschichten werden hier intelligent in Bilder übertragen, auf grafisch | |
hohem Niveau. | |
## ■ Gabi Beltrán, Bartolomé Seguí: „Geschichten aus dem Viertel“. Deu… | |
von André Höchemer. Avant Verlag, Berlin 2013, 152 Seiten , 19,95 Euro | |
## ■ Miguelanxo Prado: „Ardalén“. Ehapa Verlag, Berlin 2013, 256 Seiten, | |
29,99 Euro | |
## ■ Paco Roca: „Kopf in den Wolken“. Aus dem Spanischen von André | |
Höchemer. Reprodukt Verlag, Berlin 2013, 104 Seiten, 18 Euro | |
8 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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