| # taz.de -- Das Graphic Novel „Ausgeliefert": Zwischen Säuferin und Eierkopf | |
| > Liebesentzug, Fernsehverbot, Alkohol: Die kanadische Autorin Geneviève | |
| > Castrée macht sich daran, ihre schwierige Kindheit zu verarbeiten. | |
| Bild: Ausschnitt aus dem Comicband: Goglu hat es mit Mutter und Vater nicht lei… | |
| „Goglu“. So wurde die Comicautorin Geneviève Castrée von ihrer Mutter | |
| genannt, als sie noch ein Kind war. Was wie eine niedliche Koseform von | |
| Geneviève anmutet, ist in Wirklichkeit der Name eines kleinen Vogels, der | |
| hauptsächlich in Nord- und Südamerika beheimatet ist. | |
| Das wusste die gebürtige Québecerin selbst lange nicht, und sie staunte | |
| nicht schlecht, als sie später von der besonderen Eigenschaft des Goglus | |
| (auf Deutsch: Reisstärling oder Bobolink) erfuhr: Bei der Aufzucht der | |
| Jungen beteiligen sich beide Elterntiere zu gleichen Teilen. Und in der Tat | |
| wirkt es verwunderlich, dass Castrée ausgerechnet diesen Spitznamen bekam, | |
| denn sie wuchs ohne ihren Vater auf. Zwei Jahre alt war sie, als er die | |
| Familie verließ und in das 4.000 Kilometer entfernte Vancouver zog. | |
| Fortan verbringt das Kind seine Zeit zumeist allein. Als dann endlich ein | |
| neuer Partner ins Leben der Mutter tritt, erweist er sich als einfühlsam | |
| wie Stacheldraht: „Nenn mich nicht Stiefvater. Das klingt wie ein halber | |
| Mensch“, sagt er zu Geneviève, als ihre Mutter mit ihr zu ihm nach Montréal | |
| zieht. „Dann Papa?“, fragt das Kind. „Ich bin nicht dein Vater.“ Von ih… | |
| tristen Kindheit erzählt Geneviève Castrée in dem Comicband „Ausgeliefert�… | |
| – chronologisch von ihrer Geburt 1981 bis zu ihrem Auszug aus dem | |
| Elternhaus mit achtzehn. | |
| Castrées gezeichnetes Pendant heißt durchgehend Goglu, und auch alle | |
| anderen Figuren bekommen einen Spitznamen ab: Ihr gezeichneter Vater wird | |
| „Tête d’oeuf“ (Eierkopf) genannt, ihre Mutter und ihr Pseudostiefvater | |
| „Amère“ und „Amer“ (Bitter und Bitter). „Die Namen, die ich mir ausg… | |
| habe, sind nicht gerade schmeichelhaft“, so Castrée zu diesem Kunstgriff. | |
| „Ursprünglich ging es mir darum, meine Eltern zu schützen, denn ich erzähle | |
| ja meine eigene Version der Fakten. Die Geschichte musste zuerst durch all | |
| meine Filter: meine Erinnerungen, meine Handschrift, meine Zeichnungen. | |
| Doch letztlich musste ich lernen, die Idee zu akzeptieren, dass ich | |
| unvermeidlich über sie urteilen würde.“ | |
| ## Ein sympathischer Chaot | |
| Als Goglu ihren Vater Tête d’oeuf besucht, nachdem sie ihn zehn Jahre lang | |
| nicht mehr gesehen hat, entpuppt er sich als ein sympathischer Chaot. Der | |
| Bärtige lebt in einem laienhaft zusammengebastelten Haus im tiefen Wald, | |
| mag nichts, „was nach 1969 hergestellt wurde, denn das kann man kaum noch | |
| selbst reparieren“, und wirkt auch sonst nicht sonderlich helle. Ihre | |
| Mutter Amère trinkt. Der Alkohol verhilft der verbitterten Frau zu einem | |
| Hauch von guter Laune, mal will sie schmusen, mal mit ihrer Tochter tanzen. | |
| Goglu weigert sich, nennt sie „Säuferin“ – und wird mit drei Wochen | |
| Fernsehverbot bestraft. Als takt- und gefühllos zeichnet Castrée ihre | |
| Mutter – und zugleich auch als verloren und ratlos, so dass man als Leser | |
| gerade noch ein wenig Empathie für sie entwickeln kann. | |
| Die Autorin beschreibt ihre schwierige Kindheit akribisch: wie sie nie | |
| Freunde nach Hause einladen durfte – wenn sie überhaupt welche gehabt | |
| hätte; wie der stete Liebesentzug und die nicht kindgerechten Vorwürfe sie | |
| zu Selbstmordversuch, Anorexie, Depression führten. Und doch ist | |
| „Ausgeliefert“ alles andere als ein platter Racheakt, sondern vielmehr der | |
| aufrichtige und äußerst anspruchsvolle Versuch, die fehlende Kindheit zu | |
| verarbeiten. | |
| Das Buch hält zudem viele alltägliche und weniger gewöhnliche Anekdoten in | |
| Szenen fest, die es fast zu einem Ratgeber für Eltern werden lassen – wenn | |
| auch aus Sicht des Kindes. | |
| ## Quälende Erinnerungen | |
| „Ich habe nicht immer verstanden, was meine Eltern tun, warum ihre Augen | |
| komisch glänzen, oder wer dieser nackte Typ war, der mal mitten in der | |
| Nacht mit einem Eimer voller Wasser durch die Wohnung rannte, um den | |
| plötzlich brennenden Fernseher zu löschen“, sagt Castrée. „Aber Kinder | |
| merken sich viel mehr, als Erwachsene für möglich halten. Und sie vergessen | |
| nichts.“ | |
| Goglu bekämpft die Einsamkeit vor allem mit Zeichnen und Lesen, auch von | |
| Büchern, die nicht unbedingt kindgerecht sind. Eine ganze Seite widmet | |
| Castrée einem Selbstporträt. Zwischen Stiften und Papierblättern liegt – | |
| unschwer am Cover zu erkennen – „Die Frustrierten“, Claire Brétéchers | |
| Comic-Klassiker für Erwachsene. „Auch ein paar ’Lucky Luke‘ und ein ’T… | |
| und Struppi‘ wurden von der Familie liegen gelassen, die vor uns in der | |
| Wohnung gelebt hat“, erzählt Castrée. „Das waren die einzigen Bücher, die | |
| wir zu Hause hatten. In Brétéchers Band ging es um Mitterrand, Feminismus, | |
| Generationskonflikte, lauter Sachen, die ich nicht verstand. Aber das war | |
| trotzdem ein großer Einfluss.“ | |
| Später kauft sie sich „Mafalda“-Bände, in denen ein altkluges Mädchen ü… | |
| argentinische Politik, Kapitalismus und den Weltfrieden sinniert. „Sie war | |
| immer empört“, erinnert sich Castrée. „Diesen Teil zumindest habe ich | |
| damals ganz gut kapiert“, fügt sie mit einem Lächeln hinzu. Hätte sie die | |
| Geschichte ihrer Kindheit mit zwanzig gezeichnet, wäre sie nur voller Wut | |
| gewesen, meint sie. „Als ich aber langsam auf die dreißig zuging, musste | |
| ich feststellen, dass ich mit meinen vorigen, viel abstrakteren und | |
| fantasievollen Arbeiten doch immer nur dieselbe Geschichte zu verarbeiten | |
| versuchte. Und trotzdem quälten mich die Erinnerungen immer weiter.“ | |
| Dieses düstere Kapitel hat sie nun endlich beendet. | |
| 26 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Elise Graton | |
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