# taz.de -- Comic-Meisterwerk „Kreidestriche“: Verloren auf der Insel | |
> Miguelanxo Prados Comic „Kreidestriche“ erscheint in einer erweiterten | |
> Neuausgabe. Über ein Meisterwerk des Comics. | |
Bild: Der Zeichenstil von Miguelanxo Prado ist faszinierend zeitlos | |
Von oben sieht die kleine Insel mit ihrem hohen Leuchtturm und dem langen, | |
weiß gemauerten Steg aus wie ein Kreidestrich auf einer Tafel. Raúl, der | |
Skipper einer kleinen Segelyacht, steuert sie zufällig an, um sich vom | |
Unwetter der letzten Tage zu erholen. Die See – vermutlich befinden wir uns | |
im Atlantik – erscheint von hier aus in alle Richtungen unendlich. Der | |
lange Steg ist als Anlegestelle viel zu groß für die Insel, die aus einem | |
massiven Felsen und etwas Grünfläche besteht. | |
Die einzigen Attraktionen sind der verlassene Leuchtturm und ein Gasthof, | |
der den hier Gestrandeten warme Küche und Übernachtungsmöglichkeiten | |
bietet. Dort bedient Sara, eine von der Wechselhaftigkeit des Lebens und | |
der See gezeichnete Wirtin. Ihr halbwüchsiger Sohn wirkt etwas abgestumpft | |
und geht makabren Spielen nach… | |
Der 1958 geborene und aus dem nordspanischen Galizien stammende | |
Comiczeichner [1][Miguelanxo Prado] hat mit der Graphic Novel | |
„Kreidestriche“ vor rund dreißig Jahren sein Meisterstück geschaffen, das | |
der Cross Cult Verlag nun erfreulicherweise wieder zugänglich macht – neu | |
übersetzt und farblich überarbeitet. Davor hatte Prado intelligente | |
Science-Fiction-Comics gezeichnet und mit der Kurzgeschichtensammlung „Der | |
tägliche Wahn“ bereits einen ersten Höhepunkt seines Schaffens vorgelegt, | |
in der sich sein Sinn für scharfe Gesellschaftssatire und morbide Pointen | |
zeigte. | |
„Kreidestriche“ war mit rund 80 Seiten Umfang seine erste längere grafische | |
Erzählung, die zunächst in Fortsetzungen im spanischen Comicmagazin „Cimoc�… | |
erschien und, beeinflusst durch die Lektüre des argentinischen Autors | |
fantastischer Geschichten Adolfo Bioy Casares, bewusst auf einen | |
stringenten Plot verzichtete. | |
## Eine anhängliche Möwe | |
Der Protagonist Raúl flaniert über die Insel und freundet sich mit einer | |
anhänglichen Möwe an, die er Lucas tauft. Als er einem weiteren Gast auf | |
der Insel begegnet, der rätselhaften Ana, die mit literarischen Zitaten um | |
sich wirft und vorgibt, auf Freunde zu warten, glaubt Raúl, eine | |
Seelenverwandte gefunden zu haben. Dabei verhält sich die gebildete junge | |
Frau recht abweisend, ganz im Gegensatz zur bodenständigen, sinnlichen | |
Wirtin Sara. | |
Prado hat die Geschichte offen angelegt: Man kann zwar über die soziale | |
Herkunft der Charaktere spekulieren, jedoch bleibt viel im Vagen. Am Ende, | |
nach einer gewalttätigen Nacht, scheint die Leichtigkeit verflogen zu sein, | |
doch gibt es noch Hoffnung. | |
Zeitlos faszinierend ist Prados Zeichenstil: Auf den ersten Blick sind es | |
einfach schöne, realistische Zeichnungen (mit subtil karikierenden | |
Elementen) von einer traumhaften Insel. Die Sprechblasen werden ohne Ränder | |
gezeichnet, sodass sie die Panels weniger dominieren als sonst üblich. | |
Prado illustriert aber nicht nur, sondern nutzt seine ausgefeilte | |
Farbgebung, um die sehr wechselhaften Gefühlszustände der Personen zu | |
visualisieren. Er mixt Farbkreiden (siehe Titel), Buntstifte und Aquarell, | |
doch wirkt alles wie aus einem Guss. Die Farbe wird so auch selbst zu einem | |
Protagonisten. | |
Man kann die Comicerzählung wie eine leichte Sommergeschichte lesen, mit | |
Meeresstimmung, Inselromantik samt Aussicht auf eine zarte Liebesromanze. | |
Doch spielt Prado mit diesen Zutaten nur, um im Laufe des Geschehens auch | |
schockierende, abstoßende Momente herbeizuführen, die er gut vorbereitet. | |
Die drei Hauptfiguren scheitern schließlich allesamt im Umgang miteinander. | |
Jede(r) Einzelne schätzt die anderen falsch ein, was zu Spannungen und | |
Verletzungen führt. Die Modernität der Geschichte wird auch dadurch | |
gekennzeichnet, dass die Hauptfiguren ambivalent sind – ganz normale | |
Menschen mit Ecken und Kanten, Schwächen und Illusionen. | |
Auch 30 Jahre nach ihrer Entstehung fasziniert die Comicerzählung | |
„Kreidestriche“ durch ihre karge und zugleich tief berührende, mehrdeutige | |
Erzählweise. Die Neuausgabe wird durch großformatige Illustrationen Prados | |
ergänzt, die die Motive und Figurenkonstellationen der Graphic Novel | |
aufgreifen. Außerdem gibt es zusätzliche Comicseiten, die die Geschichte | |
auf verschiedene Weise behutsam fortführen. | |
29 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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