# taz.de -- Comic „Flughunde“ von Ulli Lust: Die Fratzen der Goebbelstöcht… | |
> Eine Geschichte aus den letzten Jahren der Nazi-Diktatur. Ulli Lust zeigt | |
> in ihrer souveränen Adaption des Roman „Flughunde“ die Lächerlichkeit d… | |
> Bösen. | |
Bild: Totaler Krieg – Kürzester Krieg: Szene aus „Flughunde“. | |
Reden, Wispern, Flüstern, Schreien, Räuspern, Stöhnen, Lachen, Rülpsen, | |
Winseln, Hüsteln, Röcheln, Brüllen – die Aufzählung menschlicher | |
Lautäußerungen könnte hier noch eine gute Weile fortgeführt werden. Es sind | |
die Bedingtheiten und Möglichkeiten der menschlichen Stimme, die Herrmann | |
Karnau mehr als alles andere interessieren. Gerade ist der menschenscheue | |
Akustiker dabei, die Mikrofone und Lautsprecher im Berliner Sportpalast | |
auszurichten: Es ist das Jahr 1940, und Propagandaminister Joseph Goebbels | |
soll hier später so überwältigend wie irgend möglich durch das Stadion | |
schallen. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. | |
Hitlerjungen schlagen Pfähle ein, der Aufmarsch der Kriegsversehrten wird | |
geprobt, und unablässig brüllt ein Scharführer Befehle. In etwa zur | |
gleichen Zeit spielt in der Parallelhandlung die achtjährige Helga Goebbels | |
mit ihren vier jüngeren Geschwistern im heimischen Garten Krieg, es wird | |
geschossen, gefallen und gestorben. | |
1995 veröffentlichte Marcel Beyer seine parallel montierten fiktiven | |
Monologe der beiden Figuren aus den Jahren 1940 bis 1945 in seinem | |
bedrückend-gruseligen Roman „Flughunde“. Nun ist dessen Comic-Adaption | |
durch die für ihren autobiografischen Comic „Heute ist der letzte Tag vom | |
Rest deines Lebens“ bekannten Zeichnerin Ulli Lust erschienen. | |
Ausgerechnet „Flughunde“ hat sie sich also ausgesucht, das seitenlang über | |
Geräusche, Töne und die innere Beschaffenheit der Stimme räsoniert. Die | |
wahre Leidenschaft Karnaus ist die zunächst privat geführte Erforschung und | |
Konservierung von Stimmen. Von Opportunismus und Wissensdrang getrieben | |
lauscht er alsbald den letzten Lebensäußerungen von Soldaten, die auf dem | |
Schlachtfeld verenden, und führt schließlich im Auftrag der SS grausame und | |
tödliche Lautexperimente an KZ-Häftlingen durch. | |
## Schaurige Kakofonie | |
Es ist eine schaurige Kakofonie, die sich beim Lesen des Romans einstellt, | |
doch ist es möglich, dies auch visuell umzusetzen? | |
Es ist, wie Ulli Lust eindrucksvoll zeigt. Hechel, Snif-snif, WUFF, | |
TOK,TOK, TOK, Grrrr, RTRTRTRTRT, iiieek, flap,flap, flap, AHHHH, OHHH, | |
mmhmm, hihihi, HUAAA, Ratratatatata, Aiii-CHCHCH, Tschilp, KRAAWUMMS tönt | |
es von den Seiten. Fette, sich überlagernde gezackte Linien scheinen | |
trommelfellverletzend zu schreien, durch die Luft tanzende Noten lassen | |
zartere Klänge erahnen. | |
Rechteckige, fransige, wolkige, gestrichelte, gezackte oder geistergleich | |
in Auflösung befindliche Sprechblasen, die mal mit zartem Strich, mal dick | |
gefasst sind, zeigen Status und Stimme ihres Sprechers unmissverständlich | |
an. | |
Dabei bedient sich Ulli Lust des ganzen Instrumentariums comictypischer | |
Lautdarstellungen. Speedlines etwa beschleunigen oder verstärken den Klang. | |
Die aus schreienden Mündern bestehenden Fratzen von Helga und Hilde | |
Goebbels, als die ihre jüngeren Geschwister zum – „spontane Aktion“ – | |
Spielen zwingen, erinnern stark an die große Schwester Lucy von den | |
Peanuts. Es ist eine prägnante Bildhaftigkeit, der man sich kaum entziehen | |
kann. | |
Viel unmittelbarer als die geschriebene, relativ nüchterne Sprache des | |
Romans erreicht nun die Bild-Erzählung die Leser. Das unermessliche Elend | |
der gemarterten Häftlinge wirkt auf die Betrachter unmittelbarer als in der | |
Romanvorlage. In einer fast unerträglich zu schauenden Parallelmontage | |
werden ein entmenschlichter KZ-Häftling und eine panische Helga gezeigt, | |
denen der jeder Lautbildung notwendige Atem genommen wird. | |
## Rost-, Schimmel- und Erdtöne | |
Unbehagen erzeugt Ulli Lust überdies mit ihrer zurückgenommenen | |
Kolorierung, eine über weite Strecken depressiv stimmende, dämmrige | |
Anmutung aus Rost-, Schimmel- und Erdtönen. Dabei gönnt die Zeichnerin | |
ihrer kindlichen Protagonistin anfangs eine sonderbar artifizielle, doch | |
optimistische gelb-orange-rote Farbigkeit, bevor sich das Leben Helgas und | |
ihrer Geschwister zusehends verdüstert, um in den letzten Lebenstagen im | |
Führerbunker schließlich im Braun und Grau der Erwachsenenwelt zu enden. | |
In ihrer Bild-Erzählung steht Ulli Lust deutlich aufseiten der ältesten | |
Goebbels-Tochter Helga, die, ihr Ende vorausahnend, dennoch gar nicht | |
anders als loyal gegenüber ihrer Familie agieren kann. Schon die, anders | |
als bei Karnau, auf Hilfslinien geschriebenen tagebuchartigen Einlassungen | |
des Mädchens vermitteln etwas von ihrer kindlichen Unschuld. Ulli Lust hat | |
die dem Roman gegenüber notwenigen Kürzungen zugunsten des | |
instrumentalisierten Kindes vorgenommen. Zwar zitiert Lust in den | |
Erzähltexten insgesamt umfangreich aus dem Original, sie hat die Geschichte | |
aber stärker auf Helga zugespitzt. | |
Dadurch gibt es in geradezu grotesker Weise eine fast vollkommene | |
Abwesenheit der üblichen Nazi-Bilderwelt im Alltag der Goebbels-Kinder, | |
dort dominiert stattdessen eine völlige Unbedarftheit, mit der die Kinder | |
die grausame NS-Wirklichkeit spielerisch nachahmen. | |
Sowenig dem Realismus verpflichtet der Roman ist, so wenig naturalistisch | |
sind nun auch die Zeichnungen Ulli Lusts. Im Gegenteil, ihr auf die Akteure | |
fokussierter karikierender und manchmal fast naiv anmutender Strich | |
ermöglicht so einen beklemmenden Eindruck von der Banalität, aber auch der | |
Lächerlichkeit des Bösen. Am Ende mag das Böse zwar nicht verstummt, aber | |
ein wenig leiser sein. | |
Ulli Lust, Marcel Beyer: „Flughunde“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 364 | |
Seiten, 24,99 Euro | |
11 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Katja Lüthge | |
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