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# taz.de -- Georg-Büchner-Preis für Marcel Beyer: Schmackofatz
> Der Autor Marcel Beyer erhält dieses Jahr den Georg-Büchner-Preis.
> Endlich kommt dieser mal nicht 20 Jahre zu spät, wie zuletzt so oft.
Bild: Kann alles: Marcel Beyer
Wenn es einen Schriftsteller gibt, der das Vorurteil, Lyriker könnten keine
Romane schreiben (oder umgekehrt), widerlegt, dann ist es Marcel Beyer. Der
1965 in Baden-Württemberg geborene, aber bereits seit 20 Jahren in Dresden
lebende Schriftsteller kann, und das ist keine Übertreibung, alles:
Er kann raffiniert gebaute und anspielungsreiche Gedichte schreiben, die
auf einer inhaltlichen Ebene jederzeit zu verstehen sind und trotzdem in
tiefere Schichten von Bewusstsein, Erinnerung und Kultur führen. Er
schreibt mitreißende, doppelbödige Romane und ist noch dazu, wie sein im
Jahr 2012 erschienener Band „Putins Briefkasten“ unter Beweis stellt, ein
glänzender Essayist.
Zunehmend hat Marcel Beyer in den vergangenen Jahren interdisziplinär
gearbeitet: 2015 hatte er sich zu Eröffnung des Frankfurter Lyrikfestivals
mit dem Ensemble Modern zu einem Lesungskonzert zusammengefunden, für das
er sowohl eigene Gedichte aus seinem Band „Graphit“ (2014) als auch Texte
seiner eigenen Referenzgrößen zusammengestellt hatte. Der Klang und die
Musikalität von Sprache sind es, die Beyers literarische Forschungen
grundieren und vorantreiben. Das Geräusch ist elementar. Das war schon so
in „Flughunde“, Beyers zweitem, 1995 erschienenen Roman, der ihn berühmt
machte.
Darin erprobt sich der fanatische Akustiker Hermann Karnau an einer
umfangreichen Kartografierung menschlicher Stimmen. Karnau lauscht den
Menschen ihre Geräusche ab und stellt sich dafür sogar in den Dienst der
Nationalsozialisten und ihres propagandistischen Anführers Joseph
Goebbels. „Flughunde“ ist zum einen ein exzellent erzählter, spannender
Roman, zum anderen aber hat Beyer auch eine der zentralen Metaphern des
„Dritten Reichs“ zu fassen bekommen und in Handlung übersetzt.
Die Verquickung von Forschergeist und Ideologieanfälligkeit, ein ungemein
deutsches Thema im Übrigen, ist eines von Beyers Spezialgebieten. In seinem
bislang letzten Roman, „Kaltenburg“, erzählt er vom Ornithologen und
Verhaltensforscher Ludwig Kaltenburg, der nach dem Krieg in Dresden ein
eigenes Institut gründet, aber ganz offensichtlich einen dunklen Fleck in
seiner Biografie hat. Konrad Lorenz mag Pate gestanden haben für diese
Figur, der Beyer aber mit großer Kunstfertigkeit ein eigenes Leben
verleiht.
## Überhaupt, die Tiere
Überhaupt, die Tiere. In einem der schönsten Gedichte in dem Band
„Erdkunde“, das den Titel „Der westdeutsche Tierfilm“ trägt, erweist B…
auf zunächst vermeintlich nostalgische Weise Heinz Sielmann eine Reverenz,
bevor ganz subtil auch noch Joseph Beuys und Stalingrad den gedanklichen
Raum erweitern und von jeder Harmlosigkeit befreien. So macht das Beyer,
der sein feines Gehör an alles legt, was ihn umschwirrt und umgibt;
Literatur, Geschichte, Alltagssprache.
In der Eröffnungsrede seiner Kölner Poetikvorlesung im vergangenen Jahr
schlug Beyer einen weiten Bogen von Frederike Mayröcker zu dem Wort
„Schmackofatz“; dem Namen eines Ladens im Berliner Bötzow-Viertel, dessen
Bedeutung ihn jedes Mal, wenn er daran vorbeikam, beschäftigte, bis er
herausfand: Es handelt sich um ein Luxusgeschäft für Tiernahrung. Humor hat
Marcel Beyer nämlich auch.
Dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Beyer nun den
Büchnerpreis und damit den wohl nach wie vor bedeutendsten Literaturpreis
dieses Landes zuerkannt hat, ist ein wenig überraschend, aber gleich in
mehrfacher Hinsicht ein großes Glück. Zum einen, weil Marcel Beyer den
Preis verdient wie kaum ein anderer. Zum zweiten, weil der Büchnerpreis
ausnahmsweise nicht 20 oder gar 30 Jahre zu spät kommt, wie zuletzt so oft.
28 Jun 2016
## AUTOREN
Christoph Schröder
## TAGS
Georg-Büchner-Preis
Literatur
Wilhelm Busch
Comic
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