# taz.de -- "Kaltenburg" von Marcel Beyer: Der würdige Ernst der Vögel | |
> Von Dohlen, die ans Fenster klopfen über die Bombardierung Dresdens bis | |
> zum Tierfilm: Marcel Beyer nimmt sich intensiv recherchiert der deutschen | |
> Geschichte an. | |
Bild: Kann alles: Marcel Beyer | |
Irgendwann, Mitte der Sechzigerjahre, steht Hermann Funk vor den Bälgen von | |
Ludwig Kaltenburgs Dohlen; jenen Tieren, die einige Jahre zuvor unter | |
mysteriösen Umständen gestorben, möglicherweise vergiftet worden sind. Der | |
Anblick und der Geruch der präparierten Tiere führen Funk zurück in eine | |
andere Zeit, in der sich Ludwig Kaltenburg noch nicht nach Wien abgesetzt | |
hatte. Zu einem Tag, an dem er auf dem Dach seiner Villa oberhalb von | |
Dresden stand und die Dohlen nach Hause winkte. Zu Taschotschek, | |
Kaltenburgs Lieblingsdohle, die sich, sobald ein ihr suspekter Besucher im | |
Haus war, so lange auf die Dachkante setzte und schrie, bis Kaltenburg auf | |
die Leiter stieg und sich ihr zeigte. Zurück zu dem Tag, an dem Kaltenburg | |
auf dem Rückweg nach Hause nicht die dunklen Punkte über seinem Haus | |
erblickte und wusste, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. | |
Zehn Seiten umfasst das Kapitel, und so viel steckt darin - die Melancholie | |
angesichts einer Epoche, die zu Ende gegangen ist, die Charakterisierung | |
eines Menschen, das Verhältnis zu seinem Forschungs- und Lebensgegenstand. | |
Und doch hat die Szene nichts Pathetisches an sich. Das ist die große | |
Kunst, durch die sich Marcel Beyers neuer Roman, "Kaltenburg", immer wieder | |
auszeichnet. Schon in seinen beiden vorangegangenen Romanen, "Flughunde" | |
und "Spione", hat sich Beyer, Jahrgang 1965, der deutschen Geschichte des | |
20. Jahrhunderts angenommen, ohne dabei voyeuristisch oder peinlich zu | |
sein. Das unterscheidet ihn von vielen seiner Altersgenossen, bei denen | |
gerade der Nationalsozialismus als bloß interessantes Dekor erscheint: | |
leicht verdaulich, käuferfreundlich in rührende Schicksale verpackt. In | |
Beyers Romanen ist Geschichte nicht die Zierde für einen Plot, sondern | |
intensiv recherchierter, leichthändig und glaubhaft erzählter Stoff, in den | |
sich die Lebensläufe wie selbstverständlich einfügen. Anders gesagt: Beyer | |
scheut die großen Themen nicht und gerät niemals auch nur ansatzweise in | |
die Nähe zum Kitsch. | |
So verhält es sich auch mit "Kaltenburg", keinem einfachen Roman, einem | |
Buch, das Geduld erfordert, weil die Chronologie zersplittert ist und die | |
Ereignisse sich in langen, assoziativ angeordneten Erinnerungsschleifen | |
bewegen, ausgelöst durch einen Gegenstand, eine Frage, eine äußere | |
Wahrnehmung. Hermann Funk, der Ich-Erzähler, hat seine Eltern beim | |
englischen Bombenangriff auf Dresden verloren, auch dies ein Kapitel, in | |
dem sich die ganze Stärke des Autors Marcel Beyer zeigt. Den Angriff erlebt | |
Hermann als ein Bombardement von brennenden oder verbrannten Vögeln, die | |
vom Himmel prasseln: "Spechte, die aus ihrer Höhle im brennenden Baum | |
entkommen waren. Ein Waldkauz, der auf dem Ansitz vom hereinbrechenden | |
Feuer, vom Flugzeuglärm aus seiner sonst so stoischen, an Totenstarre | |
gemahnenden Ruhe gerissen worden war und nun panische Luftbewegungen | |
vollführte, um die Flammen zu löschen, die von der Schwanzdecke her kommend | |
schon an seinen Armschwingen fraßen. [ ] Die vielen Enten, auf der | |
Eisfläche eines Teiches dicht zusammengedrängt, dort, wo sie sich gegen | |
alle Feinde sicher glaubten. Wie hätte ich jetzt Krickente von Löffelente, | |
Pfeifente von Reiherente oder Schellente von Tafelente unterscheiden | |
sollen, da sämtliche Tiere auf dem Wasser auf einmal brannten." | |
Vögel, die eigentlichen Hauptdarsteller des Romans. Und Ludwig Kaltenburg, | |
der berühmte Ornithologe und Verhaltensforscher, der Hermann, die | |
Vollwaise, im wahrsten Sinne des Wortes unter seine Fittiche nimmt. Man | |
kennt sich bereits aus Hermanns Elternhaus in Posen; Kaltenburg und | |
Hermanns Vater sind im Streit auseinandergegangen; man ahnt, dass es dabei | |
auch um Kaltenburgs Mitgliedschaft in der Partei ging. Überhaupt ist die | |
Kaltenburg-Figur bis in die biografischen Details an den Verhaltensforscher | |
Konrad Lorenz angelehnt: geboren 1903 in Wien, gestorben im Februar 1989 | |
ebendort, uneindeutige Haltung während des Nationalsozialismus, Professor | |
in Königsberg, Kriegsgefangenschaft in Russland. Danach trennen sich die | |
Wege zwischen realem Vorbild und Fiktion - Beyers Kaltenburg baut sein | |
Forschungsinstitut in Dresden auf, wird DDR-Bürger und bleibt später | |
während einer Vortragsreise in seiner Geburtsstadt Wien, zermürbt von den | |
Intrigen und Repressalien, resigniert ob des Todes seiner Dohlen. So | |
eröffnet sich Beyer die Möglichkeit, an seinen Figuren vermeintliche Brüche | |
und tatsächliche Kontinuitäten vorzuführen. | |
Auch andere Figuren sind in reale Zusammenhänge eingebunden: Martin | |
Spengler, der eines Tages als Gast in das Haus von Hermann Funks Eltern | |
kommt, später mit seinem Flugzeug abstürzt, von Krimtataren gerettet und | |
ein berühmter Künstler wird (der sich ironischerweise gerne mit einem | |
holländischen Namen tarnt). Oder Martins Freund Kurt Sieverding, dem | |
Hermann den ersten Tierfilm seines Lebens verdankt und der es nach dem | |
Krieg auf diesem Gebiet ebenfalls zu großer Berühmtheit bringen wird. | |
Spengler und Sieverding, Beuys und Sielmann - wie soll man sich solche | |
Figuren auch ausdenken können? Doch im Zentrum: Kaltenburg und die | |
gemeinsame Zeit mit ihm, die sich Hermann Funk in Gesprächen und | |
Begegnungen mit einer Dolmetscherin, die sich die Fachbegriffe der | |
Ornithologie aneignen will, zurück ins Gedächtnis ruft. | |
Kaltenburg, der "den würdigen Ernst des Tieres, seine so | |
selbstverständliche Haltung der Welt gegenüber" zur obersten Maxime seiner | |
Arbeit erkoren hat. Kaltenburg, der schrullige, verschlossene, leicht | |
reizbare Gelehrte, im Grunde genommen frei von Ideologien, der ein von | |
Ideologien umzingeltes Leben führt. Das, was Zeitgeschichte ist, läuft | |
scheinbar nebenher im Roman mit und ist doch das Grundthema - die Bekannten | |
und Freunde, die vor den Nazis ins Exil fliehen; die Kindheitserinnerung an | |
die dunklen Autos, aus denen die Männer in den Ledermänteln steigen, um die | |
Nachbarn abzuholen; der servile Chauffeur Kaltenburgs zu DDR-Zeiten, der | |
geradezu täppisch versucht, Informationen zu sammeln, damit er etwas in | |
seine Berichte hineinschreiben kann. | |
Das Geheime, das Dunkle, Untergründige reizt Marcel Beyer; nicht umsonst | |
lautete der doppelbödige Titel seines vorangegangenen Romans "Spione". | |
Vielleicht ist auch Beyer selbst ein Spion in Sachen literarischer | |
Geschichtsschreibung. Zum wiederholten Mal jedenfalls hat er eine Leistung | |
vollbracht: "Kaltenburg" ist ein berührender, spannender und suggestiver | |
Roman, der fern jeglichen Geraunes durch die Zeiten mäandert und dabei den | |
Menschen zutage fördert, in all seiner Armseligkeit, seiner Leidenschaft, | |
seiner Wut, seiner Trauer. Und der darüber, das ist bemerkenswert, die | |
Tiere nicht vergisst. | |
Marcel Beyer: "Kaltenburg". Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 398 Seiten, | |
19,80 Euro | |
12 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
Christoph Schröder | |
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Georg-Büchner-Preis | |
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