| # taz.de -- Graphic Novel „Marilyn the Wild“: Wie ein hektischer Traum | |
| > Jérome Charyns „Marilyn the Wild“ ist ein rasantes Stück Pulp noir. | |
| > Zeichner Frédéric Rébéna beschleunigt die Geschichte mit | |
| > expressionistischem Stil. | |
| Bild: Ist nicht so leicht zu beeindrucken: „Marylin the Wild“. | |
| Deputy Chief Isaac Sidel. Isaac, der Reine. Isaac, der Gerechte. Der | |
| härteste Cop New Yorks, ein Einzelgänger und grauenvoll eifersüchtiger | |
| Vater, gnadenlos zu seinen mittel- bis inkompetenten Untergebenen, noch | |
| gnadenloser zu den Verbrechern. Der Herrscher der Lower East Side. Doch | |
| zugleich ist Sidel mit seinen 44 Jahren am Rande einer Midlife-Crisis, ein | |
| Kontrollfreak, dem die Kontrolle zu entgleiten droht: über sein Revier und | |
| seine Tochter Marilyn. | |
| Diese Marilyn, ein Vamp mit dunklen Haaren und wahnsinnigen Kurven, vögelt | |
| heimlich mit Manfred „Blue Eyes“ Coen, der rechten Hand Sidels. Sie | |
| verachtet Manfred für dessen Loyalität: „Hättest du den Mut, dein blödes | |
| Polizeiabzeichen wegzuschmeißen und Isaac ins Gesicht zu spucken, dann | |
| würde ich mich vielleicht in dich verlieben“, sagt sie. | |
| Harte Cops, unergründliche Frauen, schwarze Zuhälter mit geckenhaften | |
| Hüten, dominospielende Italogangster, sensationslüsterne Reporter, | |
| Straßengestalten, Gewalt und Sex – es ist purer Pulp noir, der hier in | |
| Comicform vorliegt. Die Vorlage zu „Marilyn the Wild“ sind die in den | |
| 1970ern verfassten Romane des vielfach preisgekrönten New Yorker Autoren | |
| Jérome Charyn, der Isaac Sidel gleich durch zehn Romane gejagt hat und nun | |
| als Szenarist tätig war. | |
| Die Zeichnungen dazu schuf der Franzose Frédéric Rébéna. Er arbeitet mit | |
| vielen Halbnahen und Großaufnahmen, geht ganz nah ran an die | |
| karikaturenhaften Gesichter und setzt so die Kaputtheit der Charaktere noch | |
| deutlicher in Szene. Fast alle haben tiefe Augenringe, als Statisten irren | |
| Zombies und lebende Leichen durch die prädigitale Variante New Yorks, die | |
| so ausschließlich und für genau jene Art von Kriminalgeschichten existie | |
| ## Sturheit und Kurzschlüsse | |
| In dieser Story wird die Lower East Side derweil von einer Jugendbande | |
| terrorisiert. Drei Unbekannte mit Lollipops und Skimasken verprügeln | |
| Geschäftsleute aus purem Sadismus, ohne Geld zu stehlen, auch Sidels Mutter | |
| und seine Lieblingshure werden Opfer der Angriffe. Zufall? „Zufall, Scheiße | |
| was. Das war eine Botschaft an mich und ich verstehe sie nicht“, sagt Isaac | |
| Sidel. „Ich gehe selbst und suche nach den kleinen Biestern.“ | |
| Ein Opfer sagt: „Weiß wie Schnee waren sie. Die Hände. Eins war ein | |
| Mädchen. Die Umrisse von Titten erkenne ich sicher.“ – „Sie prügeln und | |
| zerstören“, sagt ein Mafiosi. „Und nach dem Auftritt verziehen sie sich in | |
| ihr Judenviertel und futtern koschere Mortadella.“ | |
| Die Ereignisse überschlagen sich. Fast alle Beteiligten neigen | |
| gleichermaßen zu Sturheit, zu Alleingängen und zu Kurzschlusshandlungen. | |
| Rébénas expressionistischer Stil mit seinen Farben und Fratzen, den | |
| Schraffuren, Schatten und Kontrasten unterstützt die Surrealität vieler | |
| Szenen. Etwa wenn Sidel in Paris seinen steinreichen Vater trifft, der | |
| halbnackt Stillleben malt, oder wenn Blue Eyes Coen an der | |
| Tischtennisplatte eines Kellerclubs ermittelt oder wenn wir bei einer | |
| Beerdigung drei Priestern mit langen Bärten begegnen, die Gebete murmeln. | |
| Oft ist die Geschichte so schwer zu greifen wie ein hektischer Traum. Immer | |
| geht es um die archaische Frage nach der Kontrolle – die Frage, wer in | |
| einer zwischenmenschlichen Beziehung das Opfer ist und wer das Raubtier. | |
| Jérome Charyn, Frédéric Rébéna: „Marilyn the Wild“. Übersetzung: Resel | |
| Rebiersch. Verlag Schreiber & Leser, Hamburg 2013. 80 Seiten, 18,80 Euro | |
| 28 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Brake | |
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