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# taz.de -- Comic als Dokumentarband: Eine Totenstadt in Ägypten
> Autobiografie eines Künstlerpaares als Comic: „Chronik einer
> verschwundenen Stadt“ ist eine Liebeserklärung an das untergegangene
> Qurna.
Bild: Dokumentarband mit paternalistischem Beigeschmack.
Direkt auf einem altägyptischen Gräberfeld West-Thebens befand sich der
kleine Ort al-Qurna. Für die Einwohner Qurnas wurde diese Lage zum
Verhängnis. Zwischen 2006 und 2008 wurden rund 300 Familien zwangsweise in
das Instant-Dorf „Neu-Qurna“ umgesiedelt – offiziell, um illegale
Raubgrabungen zu verhindern und weil die Abwässer Qurnas die Grabstätten
beschädigten.
Alle Häuser in Qurna wurden unter Einwilligung der Unesco abgerissen. Weil
das alte Qurna in der Nähe von Luxor lag, einem der touristischen
Epizentren Ägyptens, hatten sich die nicht eben privilegierten Qurnavis als
Verkäufer von Urlaubsnippes verdingt. Die Behörden hatten sie
zähneknirschend geduldet. In ihren Augen belästigten sie die Touristen.
Im autobiografischen Comic „Chronik einer verschwundenen Stadt“ schildert
das französische Künstlerpaar Dibou und Golo sein Leben in Qurna, als es
noch existierte. Nachdem Dibou in den neunziger Jahren ihren zukünftigen
Ehemann kennen gelernt hatte, reiste sie regelmäßig nach Qurna, wo er
bereits vor Jahren sein Zelt aufgeschlagen hatte. Im Gegensatz zu Dibou
spricht Golo Arabisch. Ihre Fremdheit ist auf den ersten Seiten noch
deutlich zu spüren.
## Sichtbarer Kulturschock
Die lebenssprühenden Leute, die sie vor Ort trifft, kommen ihr ziemlich
suspekt vor. Die lockere Eingangsatmosphäre lässt das bittere Ende Qurnas
noch nicht vorausahnen. Der Karikaturist Golo überzeichnet vertrottelte
Pauschalreisende und herumscharwenzelnde Ägypter so, dass Dibous
Kulturschock sichtbar wird. In ihrer Erzählung offenbart sie aber auch ganz
bewusst die Egozentrik, die ihr als Europäerin eigen ist.
Beim abendlichen Gelage langweilt sie Ägypter mit uninteressanten Details
aus ihrem Pariser Dasein als Marketing Consultant. Die lebensweisen Ägypter
verhelfen Dibou allerdings zu dem Schluss, dass sie diesem Leben den Rücken
kehren will. Im Jahr 2000 folgte sie Golo nach Ägypten.
„Chronik einer verschwundenen Stadt“ ist die Liebeserklärung der beiden an
das untergegangene Qurna. Eine Liebeserklärung an Menschen und Orte kann
sich aber schlecht glaubhaft auf Karikaturen stützen: Auf der einen Seite
bliebe der ironische Abstand zu groß, auf der anderen könnte der Funke auch
nicht beim Anblick der Landschaft oder der Altertümer überspringen, weil
sie dazu zu flach gezeichnet sind.
Deshalb fügte Dibou Fotografien ein, die sie vor allem von den Kindern im
Dorf gemacht hatte. Während die Zeichnungen die Karikaturen zeigen, die der
Massentourismus hervorbringt, sind die Fotos dazu da, das wahre Wesen der
Menschen zu zeigen.
## Panoramaaufnahmen von Qurna
Als am Schluss der kulturelle Zerfall Qurnas rasant auf die völlige
Zerstörung zugeht, haben die Fotos die Zeichnungen beinah vollständig
ersetzt. Golo und Dibou wollen genau dokumentieren. Wenn wir auf der
letzten Seite Panoramaaufnahmen von Qurna aus den Jahren 2006 und 2010
gegenübergestellt sehen, ist der Kontrast wirklich erschütternd: An die
Stelle der Wohnhäuser ist Wüste getreten.
Die korrupte und skrupellose Altertümerverwaltung hat die Interessen der
Einwohner den Divisen geopfert, die der Massentourismus einbringt. Die
Qurnavis entwurzelte die Vertreibung auch ökonomisch. Sie hatten sich
generationenlang auf die Zusammenarbeit mit Archäologen spezialisiert,
Einwohner Qurnas waren an der Entdeckung des Grabes von Tutenchamun
beteiligt. Da das neue Qurna von den Ausgrabungen und dem Tourismus
abgeschnitten ist, fehlt ihnen nach der Umsiedlung die Lebensgrundlage.
So wichtig und gelungen der Comic als Dokumentarband ist, so fade ist der
Beigeschmack, den er hinterlässt. Obwohl Dibou ihre Liebe zu Qurna oft sehr
plakativ hervorkehrt, zweifelt man am Ende nicht daran, dass sie und Golo
dort einen Sehnsuchtsort gefunden und wieder verloren haben.
Die Chronik einer verschwundenen Stadt schlägt allerdings immer wieder
einen mütterlich bevormundenden Ton an, der den Qurnavis beibringen will,
dass sie sich auf ihre eigenen kulturellen Wurzeln besinnen sollen. Sosehr
sich Dibou im Comic als Bewahrerin dieser Kultur geriert, so beharrlich
weigert sie sich darin, Arabisch zu lernen. So ganz kann sie die Arroganz
der Kultur, der sie den Rücken gekehrt hat, nicht abstreifen. Aber es ist
gut, dass auch das dokumentiert ist.
Dibou/Golo: „Chronik einer verschwundenen Stadt“. Avant Verlag, Berlin
2012, 200 Seiten, 24,95 Euro
3 Oct 2012
## AUTOREN
Waldemar Kesler
## TAGS
Ägyptologie
Comic
Schwerpunkt Afghanistan
Graphic Novel
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