# taz.de -- Das Kulturphänomen „New Sincerity“: Und jetzt mal ehrlich | |
> Einen auf cool und witzig machen war gestern: Kunst, Fernsehen und | |
> Literatur feiern die Neue Ehrlichkeit. Postironisch, peinlich, | |
> schonungslos. | |
Bild: Die „Neue Ehrlichkeit“ zeichnet sich mitunter durch gähnende Langewe… | |
Blumenkohl essen, die Schlaftablette Ambien nehmen, gemeinsam Tiger Woods | |
googeln und dann Arm in Arm wegdämmern. So sieht ein gelungenes Date für | |
den New Yorker Schriftsteller Tao Lin aus. Man hört ihm die Anstrengung an, | |
die Dinge so zu beschreiben, wie sie sind. Nichts mit sexy, cool, keck, | |
witzig. Nichts wird interessanter gemacht – auch außerhalb des Texts. | |
Die mittlerweile aufgelöste Eheschließung mit Autorenkollegin Megan Boyle | |
in Vegas – todeinsam, gemieteter Trauzeuge – filmten die beiden mit der | |
Kamera eines Laptops und stellten sie auf Vimeo. Neulich twitterte Bret | |
Easton Ellis, Lins im Juni erscheinender biografischer Roman „Taipei“, aus | |
dem die Eingangsszene stammt, mache diesen zum stilistisch interessantesten | |
Autor seiner Generation. Das heiße allerdings nicht, dass das Buch nicht | |
langweilig sei. | |
Lin dürfte sich auch über den fiesen Zusatz dieses Lobs gefreut haben. | |
Schließlich hat er seinen eintönigen, von Sedativa und Gemüseverzehr | |
geprägten Lebensstil zu seinem Markenzeichen gemacht. Lin gehört zur | |
Speerspitze der New Sincerity – der Neuen Ehrlichkeit. Schriftsteller, | |
Dichter und Filmemacher wie er, die Künstlerin Miranda July und der | |
25-jährige Internet-Poet Steve Roggenbuck suchen inmitten postmoderner | |
Distanz einen aufrichtigen Ton. | |
Dass es die Strömung in den Mainstream geschafft hat, wird am Erfolg Lins | |
deutlich, nach sieben Jahren bei Kleinverlagen hat er nun sein Debüt bei | |
einer Random-House-Tochter. July ist zwar schon seit geraumer Zeit populär, | |
aber wie so oft wird eine von Vorläufern wie ihr angedeutete Stilrichtung | |
erst mit Verspätung zum Thema. | |
## Ehrlichkeit als Problem unserer Ära | |
Es gab noch nie so viele Google-Suchanfragen nach „New Sincerity“ wie im | |
letzten halben Jahr. Mit Jonathan D. Fitzgerald und R. Jay Magill haben | |
gleich zwei Zeitgeist-Analysten Bücher der grassierenden Ehrlichkeit | |
unserer Tage gewidmet. Und Lena Dunham hat mit ihrem Film „Tiny Furniture“ | |
und ihrer TV-Serie „Girls“ die Stilmittel der „Neuen Ehrlichkeit“ schon… | |
überstrapaziert, dass man sagen kann, nicht die viel thematisierte Ironie, | |
sondern Ehrlichkeit sei das Ethos – und das Problem – unserer Ära. | |
Wie die naiven Wälder des einen Rousseaus (Henri), das wilde Denken des | |
anderen (Jean-Jacques) oder die Art Brut schockt die „New Sincerity“ | |
zunächst durch ihre Simplizität. Geradezu empörend einfach klingt die Suche | |
nach Direktheit und Aufrichtigkeit in Zeiten, in denen einige noch der Idee | |
der Neunziger anhängen, das Dschungelcamp werde durch popkulturelles | |
Bildungsbürgertum interessanter. | |
Andere diskutieren noch über Hipster – mit der ganzen Faszination des | |
Gymnasiasten für Ironie. Dabei liegt ein Teil der Wurzeln der New Sincerity | |
ja gerade in der punkigen Direktheit des Hipsterismus, beim Vice Magazine, | |
dem Fotografen Terry Richardson, der Musikerin Peaches und dem Filmemacher | |
Harmony Korine, einem Vorläufer der Hipster-Ästhetik, der wie auch Tao Lin | |
den schonungslosen Realismus von Regisseur Werner Herzog als Haupteinfluss | |
nennt. | |
Dunham und July, die sich in ihren Filmen selbst spielen, unterziehen die | |
eigene Sexualität einer viel subtileren Entblößung als dies in den Nullern | |
üblich war. Bei der Neuen Ehrlichkeit geht es dreckig zu, peinlich, | |
grobmotorisch – niemals aber um den Tabubruch. An Dunhams unförmigen Titten | |
zeigt sich das Individuum in seiner existenziellen Tragik zwischen dem Sein | |
und dem Nichts. Am knochigen Hintern Julys das Unbehagen in der Kultur. | |
Die Verballhornung des Körpers, vor allem des eigenen, wird zum ultimativen | |
Einsatz einer unhintergehbaren Wirklichkeit, zur Bresche des Realen nach | |
dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan, das sich qua Definition | |
stets entzieht und immer dort auftaucht, wo die Differenz zwischen unserer | |
Vorstellung der Welt und der Welt, wie sie ist, sichtbar wird. Natürlich | |
ist diese planmäßige Enttäuschung einer Erwartung eben so todernst wie | |
urkomisch. | |
Dieser post-, nicht antiironische Ansatz ist typisch für die jüngste New | |
Sincerity. Sie pflegt keinen Jargon der Eigentlichkeit, begreift | |
Aufrichtigkeit und Ironie nicht als Gegensätze, sondern als überholte | |
Dichotomie. | |
## Ehrlichkeit wird zur Ware | |
Die erste „New Sincerity“-Welle polemisierte gegen Ironie – sie wurde in | |
den Neunzigern vom Literaturgenie Foster Wallace formuliert und in den | |
Nullern von Folk-Hipstern wie Bright Eyes aufgenommen. Die Gegenwart hat | |
solche Feindbilder nicht mehr nötig. Zurück zu den Idealen der Sechziger, | |
schonungslose Erkundung seiner selbst und der Wirklichkeit – das ist nach | |
einem zermürbenden halben Jahrhundert Pop-Zweideutigkeit ebenso jenseits | |
der Ironie wie selbst hyperironisch. | |
Natürlich ist die New Sincerity auch alles andere als ehrlich, insofern sie | |
Ehrlichkeit zur Ware macht. Lin, July und die „Girls“-Schöpferin Dunham | |
haben sich zu Gesamtkunstwerken stilisiert. Hinter der ostentativen | |
Aufrichtigkeit steckt auch marktorientiertes Kalkül. Kaum von der trivialen | |
Transparenz des Reality-TV zu unterscheiden ist Lins totale | |
Selbstdokumentation. Gleich nach ihren ersten Dates – damals waren sie noch | |
Untergrundphänomene – beschrieben er und Megan Boyle ihr Liebesleben | |
minutiös auf ihren Blogs. | |
## Digitale Exhibitionisten | |
Der Unterschied zu Reality-TV ist: Diese „Neue Ehrlichkeit“ mag heute | |
vermarktbar sein, sie entstand aber nicht aus kommerziellem Interesse, | |
sondern aus der Gratis-Exhibitionisten-Kultur des Internets, in der jeder | |
für ein paar Sekunden ein Star sein kann und Fremde wie in einem globalen | |
emotionalen Darkroom Intimstes teilen. Im Kontext des Schriftmediums | |
Internet hat auch die geschriebene Sprache ihre Dignität als Trägerin der | |
Innerlichkeit zurückerhalten, die ihr zur Zeit des oral dominierten | |
Fernsehens abhanden gekommen war. In der Off-Szene um Lin wird | |
Netzliteratur ganz altmodisch als unkommerzielle Suche nach Sinn und | |
Ausdruck betrieben – in Chats, Foren und selbstverschickten PDFs. | |
Ihrer Herkunft aus dem digitalen Diskurs entsprechend ist die Neue | |
Ehrlichkeit eben so wenig eindimensional ehrlich wie das Internet, das | |
glücklicherweise Seelenverbrüderung mit Trollen zulässt. Sie ist Ausdruck | |
einer Gesellschaft, in der Aufrichtigkeit das denkbar knappste und daher | |
wertvollste Gut ist. Ihre Authentizität liegt gerade in der Tragik des | |
Künstlers, seinem Lavieren zwischen Momenten der Aufrichtigkeit und ihrer | |
Vermarktung: Symptom einer massenhaften Suche nach dem Richtigen im | |
Falschen. | |
27 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Johannes Thumfart | |
## TAGS | |
Girls | |
Lesestück Interview | |
Prügel | |
Pop | |
Punkrock | |
Kino | |
Normalität | |
New York | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
T. C. Boyle über die US-Gesellschaft: „Demokratie ist Luxus“ | |
Der US-Schriftsteller T. C. Boyle braucht eine Routine, um seine Romane zu | |
schreiben. Ein Gespräch über Trump, Schlafdisziplin und das Verschwinden | |
des Menschen. | |
Miranda Julys erster Roman: Die ist irgendwie schräg | |
In „Der erste fiese Typ“ lässt Miranda July ihre Protagonistin Cheryl von | |
ihrer anderen Protagonistin verprügeln – damit sie Nähe empfindet. | |
Peaches über ihr neues Album „Rub“: „Das eigene Begehren anerkennen“ | |
Die kanadische Sängerin und Produzentin Peaches lässt in ihren Videos | |
Laserstrahlen aus Hintern leuchten. Auch ihre Musik basiert stark auf | |
Körperlichkeit. | |
Neues Punk-Album der Desaparecidos: Pathetische Subversion | |
Indie-Posterboy Conor Oberst und seine Band Desaparecidos veröffentlichen | |
„Payola“: Es ist politisch bewegter Emo-Punk. | |
Lidokino: Schwul auf dem Bauernhof | |
Bret Easton Ellis und Paul Schrader machen in Venedig Low-Budget-Kino. Und | |
Xavier Dolans „Tom à la ferme“ ist ein erstes Highlight. | |
TV-Serie „The New Normal“: Liebevolle Entblößung | |
Schwule, die saufend vor dem Fernseher versacken, frühreife Kinder, | |
Teenie-Mütter: Eine Serie fragt, was heute als „normal“ gilt. | |
Empire State Building wird 82: Die imperiale Spitze des Traums | |
In Rekordzeit hochgezogen, wurde das Empire State Building am 1. Mai 1931 | |
eröffnet. Bis heute dient es als Projektionsfläche der Metropole. | |
Neue TV-Serie „Girls“: Penis ist auch keine Lösung | |
Die TV-Serie „Girls“ zeigt, dass der Mann kein Tier sein muss, auch wenn | |
die Frau ihn so nennt. Ein Blick auf die Geschlechter mit vertauschten | |
Rollen. | |
Neue US-Fernsehserien: Vergesst den „Tatort“! | |
Wenn in den USA in den letzten fünf Jahren etwas besser geworden ist, dann | |
sind es die TV-Serien. Welche neuen Perlen gibt es im Herbst? |