# taz.de -- Debatte Brustimplantate: Zuallererst nicht schaden | |
> Am Dienstag soll in Marseille der Brustimplantante-Prozess enden. Noch | |
> immer fehlen EU-weit unabhängige Tests für solche Medizinprodukte. | |
Bild: Auf der Brust kein Problem, drin aber eventuell schon: Fremdkörper | |
Franz P. ist 75 Jahre alt. Vor einigen Jahren benötigte er ein künstliches | |
Hüftgelenk (Endoprothese). Sein Arzt erklärte ihm damals, dass dies ein | |
häufiger Eingriff sei und dass er sich nicht sorgen müsse. Er war trotzdem | |
besorgt, hatte Angst vor Komplikationen. Er informierte sich über die | |
Narkose, die Wahrscheinlichkeit für Bluttransfusionen, die Versorgung nach | |
der Operation, die Lebensdauer der Prothese. | |
Über die Prothese selbst machte er sich keine Gedanken. Es erschien ihm | |
selbstverständlich, dass Materialien, die über einen so langen Zeitraum im | |
Körper eines Menschen verbleiben, mindestens so gut getestet wurden wie die | |
Tabletten, die er wegen seiner Hüftschmerzen so häufig nehmen musste. Jetzt | |
ist er beunruhigt. Immer wieder hat er von fehlerhaften Medizinprodukten | |
gelesen, die Schaden im menschlichen Körper anrichten können. | |
Giftige Schwermetalle aus Metall-Endoprothesen, Brustimplantate, die mit | |
Industriesilikon gefüllt wurden, Versagen von Messsystemen für Diabetiker: | |
Die Liste der Berichte über fehlerhafte Medizinprodukte ist lang. Sie | |
erstrecken sich über zahlreiche medizinische Bereiche und betreffen | |
unterschiedlichste Produkte. | |
Allen gemeinsam ist, dass sie ein deutliches Signal dafür sind, dass das | |
europäische Regulationssystem für Medizinprodukte in seiner aktuellen Form | |
nicht ausreichend ist, eine sichere und effektive Patientenversorgung zu | |
gewährleisten. Seit Jahren schon wird dies von Experten moniert. Zentrale | |
Kritikpunkte waren immer wieder das uneinheitliche, interessengesteuerte | |
und intransparente Zertifizierungsverfahren, die oft mangelhafte Evidenz | |
sowie fehlende Langzeitbeobachtungen der Patienten. | |
Die Europäische Kommission als zuständiges Organ hat darauf reagiert und im | |
September 2012 einen Verordnungsentwurf veröffentlicht. Dieser nimmt | |
Forderungen etwa nach einer besseren Langzeitbeobachtung auf, lässt aber | |
andere Punkte unangetastet oder lässt es in der Umsetzung an Konsequenz | |
vermissen. | |
## Petition von Experten | |
Daher hat sich eine Gruppe klinischer und methodischer Experten aus ganz | |
Europa zusammengeschlossen und gemeinsam eine Petition verfasst, die drei | |
zentrale Forderungen an die Brüsseler Kommission enthält: | |
1. Zentralisierung des Regulationsprozesses und Unabhängigkeit der | |
Bewertung: Aktuell erhalten Medizinprodukte ein Prüfsiegel | |
(CE-Kennzeichnung) von einer sogenannten benannten Stelle. Danach können | |
diese Medizinprodukte im europäischen Markt vertrieben werden. Zurzeit gibt | |
es über 80 solcher benannten Stellen, für die es keine einheitlichen | |
Prüfkriterien gibt. Die Hersteller können selbst wählen, bei welcher Stelle | |
sie ihr Präparat prüfen lassen möchten. | |
Ein solches System, in dem die benannten Stellen miteinander im | |
wirtschaftlichen Wettbewerb stehen und in denen die Prüfung von den | |
Herstellern beauftragt und bezahlt wird, bietet natürlich eine Chance, | |
besonders niederschwellige Prüfungen anzubieten beziehungsweise solche | |
auszuwählen. | |
Vor Kurzem wurde vom British Medical Journal und dem Daily Telegraph auf | |
erschreckende Weise vorgeführt, wie korrupt dieses System sein kann: Die | |
Journalisten gaben sich als Hersteller einer fiktiven Hüftprothese aus. Sie | |
legten die Daten eines Produkts vor, das bereits zwei Jahre zuvor wegen | |
Fehlerhaftigkeit vom Markt genommen worden war. Trotzdem hätten sie von | |
einer benannten Stelle eine CE-Kennzeichnung erhalten und ein fehlerhaftes | |
Produkt auf dem europäischen Markt vertreiben können. | |
Daher ist es aus Sicht der Experten essenziell, dass der Regulationsprozess | |
standardisiert und unabhängig erfolgt. Dies lässt sich am besten durch | |
einen zentralisierten europäischen Prozess erreichen. Im aktuellen | |
Verordnungsentwurf wird jedoch kein solcher unabhängiger zentraler | |
Regulationsprozess vorgeschrieben, sondern am System der benannten Stellen | |
festgehalten. Zwar sollen diese stärker durch Aufsichtsbehörden | |
kontrolliert werden, es soll jedoch auch für Hochrisikoprodukte kein | |
Verfahren eingeführt werden, das mit dem der Arzneimittelregulation | |
vergleichbar wäre. | |
## Forderung nach klinischen Studien | |
2. Stärkere Verpflichtung zur Einbeziehung von hochwertiger Evidenz zum | |
patientenrelevanten Nutzen: Um eine CE-Kennzeichnung zu erhalten und damit | |
ein Medizinprodukt auf dem europäischen Markt zu vertreiben, ist es aktuell | |
selbst für Hochrisikoprodukte nicht zwingend notwendig, dass Hersteller | |
methodisch hochwertige klinische Studien an ausreichend großen | |
Patientengruppen vorlegen. Es wird nach wie vor nicht verbindlich | |
gefordert, dass Medizinprodukte nur zugelassen werden können, wenn valide | |
Daten zum Nutzen und Schaden vorliegen. Auch hier besteht ein nicht | |
nachvollziehbarer Unterschied zur Arzneimittelregulation. | |
## Transparenz ist nötig | |
3. Transparenz des Bewertungsprozesses und der Ergebnisse: Aktuell und auch | |
nach der geplanten Änderung sind weder die klinischen Daten zu einem | |
Medizinprodukt noch die Ergebnisse der Bewertungen im Rahmen der | |
Regulationsprozesses öffentlich zugänglich. Es kann damit nicht | |
nachvollzogen werden, auf welcher Datenbasis ein Medizinprodukt zugelassen | |
wurde. Dies ist umso kritischer zu sehen, da keine verbindliche Vorgabe | |
bezüglich einer hochwertigen Evidenzbasis existiert. | |
Patienten und Ärzte müssen sich darauf verlassen können, dass ein | |
zugelassenes Medizinprodukt ausreichend geprüft ist. Natürlich kann man | |
argumentieren, dass es nur schwarze Schafe sind, die den Ruf eines | |
eigentlich gut funktionierenden Systems ruinieren. Man kann auch | |
argumentieren, dass die Einführung eines zentralen Zulassungsverfahrens | |
viel zu teuer ist. Und man kann auch prophezeihen, dass ein verschärfter | |
Regulationsprozess länger dauert und innovationsfeindlich ist. | |
Sicher ist jedoch, dass das fast schon etwas verbraucht klingende „primum | |
nil nocere“ (zuallererst nicht schaden) immer noch der ethische Grundsatz | |
ärztlichen Handelns sein muss. Sicherstellen kann dies der Arzt | |
offensichtlich nicht allein, dazu muss der Grundsatz auch von denjenigen | |
angenommen werden, die Medizinprodukte herstellen oder für die Anwendung am | |
Patienten freigeben. | |
14 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Michaela Eikermann | |
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