# taz.de -- Unruhen in der Türkei: Werther im Gezi-Park | |
> In Istanbul protestieren tausende Menschen. Der Umbau des Gezi-Parks in | |
> Istanbul – ist er ein Symbol für den Umbau der türkischen Gesellschaft? | |
Bild: Endlich durchatmen: Der Gezi-Park als Symbol für die Freiheit | |
ISTANBUL taz | Eine Frühsommernacht in Istanbul, von Weitem hörte man | |
Autos, irgendwo in der Nachbarschaft am Bosporus lachte eine Frau. Ich | |
trank Tee, schaute noch mal auf Twitter, las: „Dikkat!“ – Achtung! – | |
„Bulldozer sind in den Park gekommen!! Wir sind zwanzig Leute und versuchen | |
sie zu stoppen!! Brauchen Verstärkung!!“ | |
Nach Sekunden war dieser Tweet x-mal retweetet. Nach einer Viertelstunde | |
war der linke Abgeordnete Sirri Süreyya Önder da und fünfzig Demonstranten. | |
Dann ein Tweet mit Foto, unscharf: darauf schemenhafte Figuren vor einer | |
riesigen gelben Arbeitsmaschine, drum herum Bäume wie Geister im | |
Straßenlicht. Das Handyfoto wurde einige tausendmal retweetet. | |
Ich dachte: Der Widerstand ist gut, aber doch zwecklos. Sie ziehen das | |
durch. Der Taksim-Platz soll nach den Plänen der Regierung umgebaut werden. | |
Ich glaube, dass dieser Umbau des Platzes eigentlich den Umbau des am | |
stärksten westlich orientierten, säkularen Teils Istanbuls bezweckt. | |
Mit dem fröhlich zechenden und protestierenden Bezirk Beyoglu ist keine | |
religiös-konservative Gesellschaft zu machen. Es geht gewiss um den nunmehr | |
ganz offen vorangetriebenen Umbau der Gesellschaft. | |
Dazu gehört das kürzlich durchgesetzte Verkaufsverbot von Alkohol nach 22 | |
Uhr. Es wurde mit Vergleichen mit Schweden und Amerika legitimiert. Kaum | |
jemand glaubt das. Die Regierung versuchte lange, nicht von Religion zu | |
sprechen. Der Ministerpräsident tut es dann doch. In einer Rede sagte er, | |
dass „unsere Religion diese Regeln vorschrieb“. | |
Was viele verärgerte, war der Satz: „Ihr lebt nach Gesetzen, die zwei | |
Säufer früher gemacht haben, wollt euch aber nicht den Gesetzen unseres | |
Glaubens beugen.“ Welche „Säufer“ meint er? Dass einer der Republikgrün… | |
Mustafa Kemal ist, war klar. Noch nie hatte ein Politiker so über ihn | |
gesprochen. Kritik an Atatürk ist kein Tabu mehr, viele Linke kritisierten | |
ihn. Aber der Ton, den Erdogan anschlug, war anders. | |
In diesen Tagen passierte auch in Ankara etwas. In der U-Bahn hatte sich | |
ein junges Pärchen geküsst. Da tönte aus dem Lautsprecher die Aufforderung, | |
sich moralisch korrekt zu verhalten. Im Internet organisierten junge Leute | |
daraufhin eine Protestaktion: Sie trafen sich auf den Gleisen für eine | |
Kussaktion. Aber eine mit Messern bewaffnete Gruppe griff sie, religiöse | |
Slogans rufend, an. Plötzlich war der Ton überall schärfer. Und | |
erschreckender. | |
Die Nachrichtensender berichten schon lange nicht mehr objektiv. Kürzlich | |
sind zwei Autobomben in Reyhanli, einer Grenzstadt zu Syrien, explodiert. | |
Die Regierung macht eine linksextreme Gruppe für den Anschlag | |
verantwortlich. Gerüchte deuten auf al-Qaida. Es folgte eine | |
Nachrichtensperre. Viele begannen, an den offiziellen Erklärungen zu | |
zweifeln. Die undurchschaubare Syrienpolitik der Regierung macht Angst. | |
## In den Medien erfuhr man nichts | |
Dazu kommen die neuen Klassenunterschiede: Ein Teil der religiös | |
auftretenden Bevölkerung begann, sich zu bereichern. Wer nicht dazu gehört, | |
bekam keinen Beamtenposten, keinen Staatsauftrag. Das sorgte für Protest. | |
In den Medien erfuhr man nichts davon. Wie der Kollege Kadri Gürsel von | |
Milliyet sagt: „Ich habe seit 2008 keine einzige Nachricht mehr über | |
irgendeine Korruptionsaffäre gelesen.“ | |
Plötzlich aber war da etwas: Immer mehr Leute kamen in den Park. Sie bauten | |
Zelte auf und besetzten das Areal – so groß wie ein Stadion. Alles war | |
friedlich. | |
Am Morgen aber kamen neue Nachrichten über Twitter: Stämmige Männer in | |
Zivil, Polizisten, waren um fünf Uhr morgens gekommen, schmissen die Zelte | |
auf einen Haufen, setzten sie in Brand. Die Besetzer hatten das mit ihren | |
Handys gefilmt und ins Netz gestellt. Gönül, eine Freundin und | |
Schriftstellerin, die am Taksim wohnt, rief mich aufgeregt an. Ich sagte: | |
„Das war es. Sie lassen das nicht zu.“ Sie widersprach: „Nein, heute werd… | |
Hunderte hingehen!“ | |
Im Park sind tausende Menschen, die meisten jung. Sie spielen Gitarre, | |
liegen lesend auf den Wiesen, schmusen, malen Transparente, fordern | |
Freiheit und Gleichheit. Straßenhändler verkaufen Reis und Huhn, Teemänner | |
bieten Tee. Volksfeststimmung bei Sonnenschein. | |
## Freie Gesellschaft | |
Dieser Park, dieses Fleckchen Natur zwischen den Fünfsternehotels, wurde | |
plötzlich auch in meinen Augen zum Symbol: Endlich durchatmen können! Das | |
Gefühl des Alleinseins und der ganz privaten Angst entwich. Journalisten, | |
Künstler, Schriftsteller, Gewerkschafter – alle kamen. Meinungsfreiheit. | |
Keine Gesinnungsjustiz. Freiheit für die Universitäten, das Verlagswesen. | |
Freiheit an und für sich. | |
An jenem Abend kam der Schauspieler Okan Bayülgen zum Park und las aus | |
Goethes „Leiden des jungen Werther“ vor. Still lauschten die jungen Leute | |
den Worten des unglücklich Liebenden: „Ich weiß wohl, daß wir nicht gleich | |
sind, noch sein können; aber ich halte dafür, daß der, der nötig zu haben | |
glaubt, vom so genannten Pöbel sich zu entfernen, um den Respekt zu | |
erhalten, ebenso tadelhaft ist als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde | |
verbirgt, weil er zu unterliegen fürchtet.“ – Es wird Sommer in Istanbul. | |
In dieser einen Nacht hatte ich Hoffnung. Am nächsten Morgen, um fünf Uhr, | |
sind sie wiedergekommen. Diesmal mit Tränengas. Sie sprühten Gas in die | |
Zelte, wo die jungen Leute schliefen, sie verwüsten alles. Es gab | |
Verletzte. Wie viele? | |
## Schauplatz eines Volksaufstands | |
Auf einmal wurde klar: Verletzt waren alle! Nicht nur hunderte | |
Protestierende im Gezi-Park, sondern Millionen von Menschen in einem | |
Dutzend Städten landesweit. Mädchen mit Kopftüchern liefen voller Zorn auf | |
die Straße wie auch die Kinder des säkularen Mittelstands. Arbeiter und | |
Hausfrauen, ihre Kinder und die Großmütter – jeden Tag gehen sie raus. Ihre | |
Anwesenheit ist Protest. Allabendlich wird die Innenstadt von Istanbul | |
Schauplatz eines Volksaufstands. | |
Die Tränengaseinsätze gegen die Leute sind unbeschreiblich. Man bastelt | |
Gasmasken aus Plastikflaschen und hilft sich, wo man kann. Der Aufstand | |
wird von den nach 1990 Geborenen getragen: Sie fordern Freiheit, | |
Transparenz, Gleichheit. Sie fühlen sich als Teil einer demokratischen | |
Weltbewegung. Guy-Fawkes-Masken, Handys und das Internet sind ihre | |
Hilfsmittel. Sie feiern ihre Freiheit mit unerhört witzigen Sprüchen, | |
Videos und Protestformen und unglaublichem Mut. Sie befreien sich. | |
Es ist ein Stück wie im Film „Avatar“ am Bosporus. Die Metallmaschine mit | |
den Greifarmen griff den Lebensbaum an. Der Baum stand für das freie und | |
gute Leben. Die Menschen hoffen jetzt in Istanbul auf Freiheit und darauf, | |
für immer durchatmen zu können. Sie hoffen, dass eine gewählte Regierung | |
versteht, dass Demokratie eine Philosophie und Lebensform ist. | |
9 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Dilek Zaptcioglu | |
## TAGS | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Taksim-Platz | |
Istanbul | |
Gezi-Park | |
Schwerpunkt Protest in der Türkei | |
Kemal Atatürk | |
Schwerpunkt Türkei | |
Resistanbul | |
Protest | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Polizei | |
Resistanbul | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Resistanbul | |
Taksim-Platz | |
Schwerpunkt Türkei | |
Taksim-Platz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Türkeiexperte über die Proteste: „Erdogan ist auf Konfrontationskurs“ | |
Ändert Premier Erdogan nicht seinen Kurs, wird weiter demonstriert, sagt | |
Türkeiexperte Yasar Aydin. Sein Image habe Schaden genommen. | |
Proteste in Istanbul: „Das Ende der Toleranz“ | |
Die Polizei stürmt am Morgen den Taksim Platz. Erdogan verteidigt das | |
Vorgehen. Die Menschen im Gezi Park sind entsetzt. | |
Proteste in Istanbul: Erdogan will „Millionen“ mobilisieren | |
Erdogan hat mehrfach gedroht: Er brauche nur ein Wort zu sagen und | |
Millionen würden auf die Straße gehen. Die Polizei stürmt unterdessen den | |
Taksim-Platz. | |
Proteste in der Türkei: „Die Solidarität rührt die Menschen“ | |
Orkan Özdemir, türkeistämmiger Berliner und Sozialdemokrat, flog zur | |
Unterstützung der Proteste in die Türkei. Denn beim Bauprojekt im Gezi-Park | |
gehe es auch gegen die Queer-Bewegung. | |
Video gegen Erdogan: Soli-Grüße auf Chinesisch | |
Animationsfilmer aus Hongkong haben einen überdrehten Clip zu den Protesten | |
in der Türkei produziert. Premier Erdogan wird darin als osmanischer | |
Autokrat karikiert. | |
Türkische Polizei unter Druck: Selbstmorde unter Einsatzkräften | |
Die Gewerkschaft der türkischen Polizei klagt über Dauereinsätze wegen den | |
anhaltenden Protesten gegen die Regierung Erdogan. | |
Aufstand in der Türkei: AKP schließt Neuwahlen aus | |
Auch am Samstag ist der Taksim-Platz Ort des Protests gegen die Regierung | |
Erdogan. Tausende Fußballfans sind hinzugekommen. In Ankara setzt die | |
Polizei Tränengas ein. | |
Kolumne Gehts noch?: Die Frankfurt-Istanbul-Connection | |
Grundrechte? Nicht mit uns! Darin sind sich die hessischen Christdemokraten | |
und der türkische Ministerpräsident Erdogan einig. | |
Aufstand in der Türkei: Die Zeltstadt wächst weiter | |
In Istanbul und Ankara versammeln sich erneut tausende Menschen zum Protest | |
gegen die Regierung Erdogan. In NRW-Städten kam es zu | |
Solidaritätsdemonstrationen. | |
Unruhen in der Türkei: Kampf um ein Rechteck | |
Ein Architekt solidarisiert sich mit den Besetzern des Gezi-Parks. Er | |
kritisiert die autoritär-religiöse Entwicklung des türkischen Staates. | |
Jetzt lebt er in Angst. | |
Erdogan sieht Komplott: „Das glaubt doch keiner mehr!“ | |
Die harten Worte des türkischen Premiers bei seiner Rückkehr aus Nordafrika | |
lösen bei den Demonstranten in Istanbul eher Gleichgültigkeit aus. | |
Proteste in der Türkei: Sehen, wie die Freiheit schmeckt | |
Die Demonstranten haben den Taksim-Platz in eine befreite Zone verwandelt. | |
Hier herrscht ein Gemeinschaftsgefühl, das es so noch nie gab. |