| # taz.de -- Unruhen in der Türkei: Kampf um ein Rechteck | |
| > Ein Architekt solidarisiert sich mit den Besetzern des Gezi-Parks. Er | |
| > kritisiert die autoritär-religiöse Entwicklung des türkischen Staates. | |
| > Jetzt lebt er in Angst. | |
| Bild: Friedlicher Protest at its best. | |
| ISTANBUL taz | An einem Tag im April sitzt Aziz Tuna* ein | |
| Architekturdozent, der aussieht wie Picasso, in einem Park in Istanbul, er | |
| zündet sich eine Zigarette an, Samsun 216, und sagt: „Es wird bald Ärger | |
| geben.“ Bald, in ein paar Wochen, sollen Bagger kommen: Sie wollen der | |
| Stadt einen Park nehmen und eine Shoppingmall geben. | |
| Tuna ist nicht einverstanden mit diesem Tausch. „Ein Park ist keine freie | |
| Fläche, die man bebauen kann“, sagt er. „Ein Park ist wie ein Gebäude.“… | |
| Park, in dem Tuna sitzt, heißt Gezi-Park, kein prominenter Park, zu diesem | |
| Zeitpunkt: ein Rechteck, das man in zwei Minuten umrundet hat, Bäume, | |
| Blumenbeete, ein Brunnen, ein paar Bänke. Man hört die Autos als fernes | |
| Rauschen dort, hupende Taxis. Tuna mag den Schatten der Bäume. | |
| Er hat einen Satz gelesen, er weiß nicht mehr, wo: „Der Kapitalismus fällt | |
| die Bäume, wenn er nicht ihren Schatten verkaufen kann.“ | |
| Am Morgen kam eine Studentin zu ihm, sie hatte ein Problem mit ihrem | |
| Entwurf. „Die Räume sind unterschiedlich groß“, sagte sie. „Na, und?“, | |
| sagte Tuna. „Allah hat uns doch auch verschieden erschaffen: dünne | |
| Menschen, große Menschen, dicke Menschen.“ „Das ist Gotteslästerung“, s… | |
| die Studentin. | |
| ## „Was wollt ihr noch alles verbieten?“ | |
| Dann lachte Tuna: Er war vor vierzig Jahren das letzte Mal in der Moschee. | |
| Er schüttelt den Kopf, wenn er Touristen aus dem Osten sieht: Die Frauen | |
| bis auf die Fingerspitzen verhüllt, die Männer in Shorts und Flipflops. | |
| „Der Islam ist eine Religion der Männer“, sagt er. | |
| Wenn die Rufe des Muezzins durch die Straßen Istanbuls hallen, dann singt | |
| er ihm spöttisch nach. Wenn er einen Wahlkampfstand der AKP sieht, der | |
| Partei des Premiers, dann fängt er an zu schimpfen: Was wollt ihr noch | |
| alles verbieten? Das Rauchen? Das Trinken? „Es geht nur um Ihre | |
| Gesundheit“, sagen die Männer von der AKP. „Polis devleti!“, flucht Tuna. | |
| Polizeistaat. Er weiß, dass es nicht um seine Gesundheit geht. | |
| Von seiner Wohnung braucht er eine halbe Stunde zum Gezi, er geht am | |
| Galataturm vorbei, über die Istiklal, den Taksim-Platz. Tuna bestellt Tee | |
| und sieht, wie der Tag vergeht: Er atmet auf. Es gibt nicht mehr viele | |
| Orte, an denen er das kann. Er will seine Wohnung verkaufen und die Stadt | |
| verlassen, wenn er im Ruhestand ist: vielleicht ans Schwarze Meer. | |
| Vielleicht nach Deutschland, der Schwarzwald gefällt ihm. Er will seine | |
| Mutter mitnehmen, er will in einem kleinen Dorf sitzen und zeichnen. | |
| Abends steigt er auf eine Fähre, er fährt über den Bosporus auf die | |
| asiatische Seite der Stadt, wo seine Mutter wohnt. Früher hätte er sich an | |
| Bord, im Fahrtwind, während er zusah, wie die Kinder Sesamkringel in die | |
| Luft halten und warten, bis die Möwen anbeißen, eine Zigarette angezündet, | |
| aber das ist nicht mehr erlaubt. Früher kaufte er sich Bier im Supermarkt, | |
| aber die Regierung hat die Steuern erhöht. Das Bier ist zu teuer. | |
| ## Umstellt von Hotels, bedrängt von Straßen | |
| Früher, als Tuna noch studierte, war seine Stadt grüner. Der Gezi-Park war | |
| größer, er führte bis zum Bosporus, man sah Containerschiffe, die | |
| asiatische Seite der Stadt. Dann wurde der Park nach und nach eingeschnürt, | |
| umstellt von Hotels, bedrängt von Straßen. Das Land wuchs, die grünen | |
| Stellen in Istanbul verschwanden. Auch das gehört zum Fortschritt der | |
| Türkei. Geld und Religion haben sich verbündet. Auf den Entwürfen, die in | |
| seiner Wohnung hängen, sind Bäume eingezeichnet, bepflanzte Innenhöfe, viel | |
| Glas. Er mag Le Corbusier. | |
| Manchmal steigt er in einen Bus, er fährt an Brücken vorbei, an | |
| Hochhäusern, er fährt durch Tunnels und wartet im Stau, die vielen | |
| Menschen, die Autos, der Lärm, dann steigt er am Campus der | |
| Bilgi-Universität aus, einem umzäunten Gelände mit gepflegtem Rasen und | |
| einer Filiale von Starbucks. Er bestellt Kaffee und sieht, wie die | |
| Studenten im Schatten liegen. | |
| An einem Freitag, Ende Mai, sitzt Aziz Tuna in seinem Büro, er kann auf den | |
| Bosporus blicken von hier. Seit ein paar Tagen besetzen Umweltschützer den | |
| Gezi-Park. Tuna bespricht Entwürfe mit seinen Studenten, er raucht. Dann | |
| geht er auf Facebook. Er liest, dass etwas im Park passiert ist: Er sieht | |
| Bilder von prügelnden Polizisten, von blutenden Parkschützern. | |
| Er will dorthin, er hastet über die Istiklal, er braucht eine halbe Stunde. | |
| Er sieht, dass die Straße mit Gittern abgesperrt ist, Polizisten, | |
| aufgereiht, hinter Schildern verschanzt. Er kommt nicht durch. Er sieht, | |
| wie Tränengaswolken aufsteigen, den Strahl eines Wasserwerfers, er hört | |
| Schreie, er sieht, wie Verletzte weggebracht werden, ihre Augen tränen. | |
| ## Im Fernsehen kommt eine Kochshow | |
| Er bekommt Angst und geht nach Hause, er schaltet den Fernseher ein: Auf | |
| CNN Türk kommt eine Kochshow. Es ist jetzt Abend. Tuna wird wütend, er | |
| nimmt sein Smartphone und geht auf Facebook. Er schreibt alles, was er über | |
| die Regierung denkt und auch eine Nachricht über Mohammed, den Propheten. | |
| Er lehnt sich in seinem Sofa zurück: Er fühlt sich besser jetzt, er ist | |
| erleichtert. Er sieht, dass seine Freunde beginnen, den Like-Button unter | |
| seinen Nachrichten zu klicken. Er fängt an zu grübeln: Ist es gefährlich, | |
| was er geschrieben hat? Nach einer Stunde entscheidet er sich, die | |
| Nachrichten wieder zu löschen. | |
| Am nächsten Tag will er wieder in den Park, die Polizei hat Straßensperren | |
| errichtet, er kommt nicht durch. Er geht in ein Börek-Restaurant und sieht | |
| auf Halk TV, dem Sender der Arbeiter, dass sich die Polizei zurückzieht. Er | |
| hastet zurück, aus allen Straßen strömen Menschen zum Taksim-Platz: Sie | |
| schwenken Fahnen und singen. | |
| Am Sonntag fährt Tuna über den Bosporus, auf die asiatische Seite der | |
| Stadt, zu seiner Mutter. Er hat etwas Hoffnung, dass es besser wird. Bis | |
| zum nächsten Tag, Montag, er sitzt im Büro, das Telefon klingelt. Es ist | |
| ein Redakteur einer Zeitung, die der Regierung nahe steht. Er liest Tuna | |
| vor, was er auf Facebook geschrieben hat. „Haben Sie diese Nachricht | |
| verfasst?“, fragt er. Nein, sagt Tuna. | |
| Sein Telefon klingelt ein zweites Mal. Es ist der Redakteur einer anderen | |
| Zeitung, die der Regierung nahe steht. Er liest vor, was Tuna auf Facebook | |
| geschrieben hat. „Haben Sie das geschrieben?“, fragt er. Nein, sagt Tuna. | |
| Er schaltet sein Handy ab und fährt über den Bosporus zu seiner Mutter. Er | |
| hat jetzt Angst, dass die Polizei ihn finden kann. In einer Zeitung sieht | |
| er Fotos von verletzten Demonstranten, die in einer Moschee liegen. Sie | |
| haben Schuhe an. „Ist das euer Respekt vor einem Gotteshaus?“, fragt die | |
| Zeitung. Zwei Tage lang hat Aziz Tuna Angst. Er fragt sich, ob er ins | |
| Gefängnis kommt oder vielleicht seinen Job verliert. Dann geht er zurück | |
| auf den Taksim-Platz. | |
| *Name geändert | |
| 7 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Felix Dachsel | |
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