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# taz.de -- Protest: Der Gezi-Park liegt in Berlin
> In Berlin gibt es täglich Solidaritätsaktionen. Aber die hiesigen
> Türkeistämmigen sind beim Thema Erdogan gespalten.
Bild: Protestiererin in der Türkei
Für sie gab es kein Zögern: Seit der ersten Berliner Solidaritätsdemo für
die Protestierenden in Istanbul war Yildiz G., 31, bei fast allen
Kundgebungen dabei. Die finden seit Freitag fast täglich statt, in
Kreuzberg, Neukölln, vor der türkischen Botschaft am Tiergarten. Dazwischen
gibt es Versammlungen, Organisationstreffen mit Freunden, unzählige
Berichte aus der Türkei müssen auf Facebook gecheckt, Freunde dort
abtelefoniert werden, um zu erfahren, ob sie Hilfe benötigen. Schlafen
kommt zu kurz. „Dass Menschen ihr auch in der Türkei von der Verfassung
garantiertes Recht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen dürfen“, sei ihr
derzeit wichtiger, sagt sie.
Viele der ersten Solidaritätsprotestler in Berlin waren Leute wie Yildiz:
junge Türkinnen und Türken, die nicht zu den alteingesessenen
Türkeistämmigen gehören, sondern oft erst vor kurzem zum Studium gekommen
sind. „Guck mal, lauter richtige Türken“, so eine türkeistämmige Berline…
perplex beim ersten Protest am Kottbusser Tor zu ihrer Freundin. Auf
Pappschildern wurde meist auf Türkisch Solidarität mit dem Widerstand vom
Gezi-Park bekundet, Reden wurden ins Deutsche übersetzt.
Doch das Bild wandelt sich. Immer mehr beteiligen sich auch die Einwanderer
aus der Türkei an den Kundgebungen. Fahnen von Berliner Ablegern türkischer
Organisationen und Parteien dominieren die Märsche und Proteste.
Für Berlins Aleviten, eine in der Türkei seit Jahrhunderten Repressionen
ausgesetzte Religionsgemeinschaft, deren Mitglieder oft auch Kurden sind,
war es klar, bei den Protesten dabei zu sein. Die Aleviten seien
„traditionelle Gegner der AKP“, der Partei von Ministerpräsident Recep
Tayyip Erdogan, sagt Ahmet Taner, Vorsitzender der Alevitischen Gemeinde.
„Auch wenn die AKP hier lange als Verbündeter angesehen wurde – uns war
immer klar, dass sie eine Islamisierung, keine Demokratisierung wollen.
Dass die Leute das jetzt hier und in der Türkei begreifen, freut uns sehr“,
sagt Taner, der in Berlin geboren ist.
Doch der Demo vor der türkischen Botschaft am Sonntag blieben die Aleviten
bewusst fern. Dort wehten vor allem die Fahnen der linksnationalistischen,
kemalistischen Jugendorganisation Türkiye Genclik Birligi sowie der
strengen Kemalisten der Atatürk-Gedenkvereine. Ein „gewisser Teil der
Opposition“, sagt Taner vorsichtig, wolle „keine demokratische Gesellschaft
im europäischen Sinne“, sondern „zurück zur alten Ordnung des stark
zentralistisch und national geprägten Staates. In einem solchen System
fühlen wir als Aleviten uns aber auch nicht wohl.“
„Sicher, manche Leute bekommen Bauchschmerzen, wenn sie auf den Demos die
türkische Nationalhymne hören oder sogar, dass gegen Kurden gehetzt wird“,
sagt Ayse Demir. „Aber es geht nicht darum, Kurde, Türke, Armenier, Alevit,
Sunnit oder Christ zu sein. Es geht darum, vereint gegen Erdogans Politik
zu protestieren.“ Auch Demir, Vorstandssprecherin des Türkischen Bundes
Berlin Brandenburg (TBB), geht zu den Demos. „Eigentlich gehören Äußerungen
zur Politik in der Türkei nicht zu den Aufgaben des TBB“, sagt sie. „Aber
diesmal sehen wir uns verpflichtet, Stellung zu beziehen, da die Vorgänge
viele Türkeistämmige sehr bewegen.“
## Nicht alle äußern sich
Zum TBB und der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) gehören viele
sozialdemokratische Vereine. Konservative oder religiöse Organisationen
türkeistämmiger BerlinerInnen beziehen andere Positionen. Die Islamische
Föderation Berlin (IFB) etwa, ein Verband von Moscheegemeinden, will sich
gar nicht äußern. „Wir betrachten uns nur als Religionsgemeinschaft und
wollen uns nicht zu politischen Themen äußern“, schreibt IFB-Chef Fazli
Altin auf Anfrage der taz, „zumal wir aufgrund unserer religiösen und
ethnischen Zusammensetzung parteipolitisch neutral sind und sein müssen.“
Bekir Yilmaz von der konservativen Türkischen Gemeinde Berlin (TGB) ist
weniger zurückhaltend: Er finde „traurig, dass ein plötzlicher Protest in
solche Gewalt ausgeartet ist“, sagt er. „Natürlich“ habe die türkische
Polizei „übertrieben“: „Aber das kann kein Grund sein, Istanbul in Angst
und Schrecken zu versetzen.“ Dass man Erdogans Regierung kritisch sehe, sei
„selbstverständlich legitim“ und friedlich zu demonstrieren „ein
demokratisches Recht“, so Yilmaz. Aber: „Regierungen werden gewählt und
abgewählt, das ist der einzig demokratische Weg.“ Erdogan dürfe nicht
zurücktreten, so der TGB-Vorsitzende – ganz auf der Linie der türkischen
Regierung.
Dass die Erdogan keineswegs freundlich gesinnte Organisation „Türkiye
Genclik Birligi“ (TGB) die gleiche Abkürzung führt wie Yilmaz’ Gemeinde,
stört ihren Vorsitzenden Beyhan Yildirim nicht: „Die Leute wissen das schon
zu unterscheiden“, meint er: „Wir haben Atatürk-Bilder auf unseren Fahnen.…
Yildirim, Mitte 30, in Deutschland geboren, Sozialwissenschaftler, ist
Anhänger von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk. Der Kemalismus fuße auf
den Idealen der Französischen Revolution: „Frieden, Freiheit, Laizismus,
Bildung, Gleichberechtigung.“ Erdogan und die AKP hätten „die Grundsätze
des Kemalismus und so die Fundamente der Türkei ruiniert“.
Dass nicht alle Demonstranten glücklich über die starke Präsenz seiner
Organisation sind, die laut Yildirim mehrere hundert Anhänger in Berlin
hat, irritiert ihn nicht. Für ihn muss die Türkei zurück zu einem
Kemalismus wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Dass das auf viele der jungen
TürkInnen, die in Berlin oder Istanbul protestieren, ähnlich
rückwärtsgewandt wirkt wie die auf das Osmanische Reich zurückgreifende
Politik Erdogans, führt der Deutschtürke auf schlechte Propaganda für den
Kemalismus zurück. Der sei von „konservativen und proamerikanischen“
türkischen Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr umgesetzt
worden.
Taner, der Alevit, sagt, er sehe derzeit auch in der türkischen Opposition
„keine echte demokratische Alternative“. Für eine demokratische
Gesellschaft dort will er aber weiter kämpfen. Genau wie Yildiz G. und ihre
Freundin Deniz N., die weitere Solidaritätsaktionen planen. Sie wollten
„Aufmerksamkeit für das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte und den
Umgang der türkischen Regierung mit den DemonstrantInnen“, sagt Deniz N.,
die wie Yildiz G. zum Studieren nach Deutschland kam. An der Demo vor der
Botschaft haben die beiden auch nicht teilgenommen. Eigentlich stehen aber
die unterschiedlichen Ideologien für sie im Hintergrund: „Alle haben ihre
Forderungen, ihre Unzufriedenheiten“, sagt sie. „Aber alle vereint der
Wunsch nach Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte.“
4 Jun 2013
## AUTOREN
A. Wierth
C. Icpinar
## TAGS
Schwerpunkt Protest in der Türkei
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Taksim-Platz
Schwerpunkt Türkei
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