| # taz.de -- Proteste in der Türkei: Sehen, wie die Freiheit schmeckt | |
| > Die Demonstranten haben den Taksim-Platz in eine befreite Zone | |
| > verwandelt. Hier herrscht ein Gemeinschaftsgefühl, das es so noch nie | |
| > gab. | |
| Bild: Misstrauisch beäugt: Passant vor Werbung am Taksim-Platz. | |
| ISTANBUL taz | Der Unterschied zwischen zwei Welten erschließt sich durch | |
| eine U-Bahn Fahrt von einer Station zur anderen. Unten am Fähranleger am | |
| Bosporus in Kabatas wirkt Istanbul wie immer. Leute hetzen zur Fähre, | |
| suchen einen Bus, die Autos stehen im Dauerstau. Einzig ein zerschlagenes | |
| Billboard gibt einen Hinweis darauf, dass es auch hier nachts anders | |
| zugehen kann. | |
| Doch wer in Kabatas in die Metro steigt und eine Station weiter am | |
| Taksim-Platz wieder an die Oberfläche kommt, betritt eine andere Welt. | |
| Autos gibt es noch, aber nur noch als umgestürzte, ausgebrannte oder | |
| zertrümmerte Vehikel. Sie werden jetzt als Teil einer Barrikade genutzt, um | |
| alle Zufahrten zum Platz für die Polizei zu sperren. Der normalerweise | |
| verkehrsreichste Platz Istanbuls ist, was die Stadtoberen auch schon mal | |
| versprochen hatten, nur noch Fußgängern vorbehalten. | |
| Der Taksim ist mit hunderten Fahnen geschmückt, jedes linke Grüppchen | |
| wollte seinen Wimpel hinterlassen. Wo sonst Starbucks schlechten Kaffee zu | |
| hohen Preisen verkauft, ist jetzt ein Versorgungszentrum eingerichtet | |
| worden. Dort kann jeder umsonst Wasser und belegte Brote bekommen, die von | |
| überallher gespendet wurden. | |
| Auf den Stufen zum Gezi-Park – dort, wo vor zehn Tagen alles begann – liegt | |
| ein großer Stapel Reifen, der über und über mit Zetteln geschmückt ist. | |
| Botschaften von Demonstranten an die Regierung sind dort angesteckt, wie: | |
| „Ich verkaufe Simit. Ich lebe in Würde. Weg mit der Polizei“. Über dem | |
| Eingang zum Park weht ein großes Transparent, auf dem steht: „Tayyip Istifa | |
| Kolektif“ – übersetzt, das „Kollektiv für den Rücktritt von Tayyip | |
| Erdogan“. | |
| ## „Das muss ein Traum sein“ | |
| Willkommen in der befreiten Zone von Istanbul. Ergün steht staunend auf den | |
| Stufen zum Gezi-Park und schüttelt ungläubig den Kopf. „So etwas habe ich | |
| noch nie gesehen. Das muss ein Traum sein, das gab es in der Türkei noch | |
| nie“. | |
| Ergün ist von Beruf Augenarzt. Er ist erst am Morgen nach Istanbul | |
| gekommen, und zwar aus Urfa. Urfa ist die Stadt Abrahams, ganz im Südosten | |
| des Landes an der syrischen Grenze, 2000 Kilometer von Istanbul entfernt. | |
| „In Urfa“, sagt Ergün, „passiert nichts. Es gibt keine Demonstrationen. … | |
| Stad ist sehr konservativ“. Deshalb hat er sich in seinem Krankenhaus | |
| freigenommen und ist nach Istanbul gekommen. „Vielleicht kann ich helfen. | |
| Aber ich wollte auch sehen, hören und riechen, wie die Freiheit schmeckt“. | |
| Im Zentrum des Gezi-Parks, wo vor zehn Tagen die ersten noch kleinen | |
| Versammlungen der BesetzerInnen stattgefunden haben, ist jetzt ein | |
| Erste-Hilfe-Zentrum eingerichtet worden. Ärzte wie Ergün bieten hier Hilfe | |
| an: Medikamente, die umliegende Apotheken gespendet haben, werden sortiert | |
| und so verpackt, dass sie am Abend, wenn es in anderen Teilen der Stadt | |
| wieder Polizeiangriffe gibt, schnell dorthin geschickt werden können. | |
| Eine kleine Mauer neben der Sammelstelle wurde zur „Mauer der Hilfe“ | |
| gemacht. Es sieht aus wie der Schrein der Revolution. Dort stehen Flaschen | |
| mit einer Flüssigkeit, um sich die Augen von Tränengas auszuwaschen. | |
| Zitronen, selbstgebastelte Gasmasken und andere Souvernirs der letzten | |
| Tage. | |
| ## Magie der „befreiten Zone“ | |
| Die Atmosphäre der Freiheit, die seit Sonntag vom Taksim-Platz ausgeht, | |
| lässt die Stimmung vibrieren. Vor allem tausende junge Leute in der | |
| Millionenmetropole werden vom Taksim-Platz und Gezi-Park geradezu | |
| magnetisch angezogen. Sie wollen die neue Türkei anschauen, sie wollen | |
| tanzen, Plakate malen und ein Gemeinschaftsgefühl genießen, das es so, über | |
| alle Grenzen der verschiedenen Gruppen und Weltanschauungen des Landes | |
| hinweg, wohl noch nie gab. | |
| Sicher, die meisten Besucher und Dauergäste im Gezi-Park sind säkulare | |
| Jugendliche, denen die Politik Erdogans schon länger die Luft abschnürt. | |
| Doch die Magie der „befreiten Zone“ wirkt weit darüber hinaus. | |
| Ein hoher AKP-Funktionär aus der Regierung gestand dem AKP-nahen | |
| Kolumnisten Mustafa Akyol, das er nur mit Mühe verhindern konnte, dass | |
| seine Töchter sich ebenfalls zum Gezi-Park aufmachten. | |
| Die BesetzerInnen des Parks werden in den türkischen Medien bestaunt wie | |
| Leute von einem anderen Stern. „Sie sind friedlich, sie sind tolerant und | |
| sie sind diszipliniert. Es gibt keine Betrunkenen, niemanden, der sich | |
| rücksichtslos benimmt“, berichtet ein staunender Reporter im | |
| Nachrichtensender NTV seinem Publikum. | |
| ## Der kurze Sommer der Anarchie | |
| Seit die Polizei am Samstagabend den Taksim-Platz, den Gezi-Park und die | |
| Umgebung im Zentrum völlig geräumt hat, gibt es hier keine Zwischenfälle | |
| mehr. Und seit Regierungschef Tayyip Erdogan sich am Montagmorgen zu einem | |
| viertägigen Staatsbesuch nach Nordafrika verabschiedet hat, wagt es auch | |
| niemand mehr in der Öffentlichkeit, die BesetzerInnen als „Chaoten“ oder | |
| gar als „Marodeure“ zu verunglimpfen, wie Erdogan es getan hat. | |
| Im Gegenteil: Die ProtestlerInnen aus dem Gezi-Park können sich vor | |
| Unterstützern kaum retten. Am Dienstag bekannte gar der Vorstandschef einer | |
| der größten türkischen Banken, Ergun Özen, CEO der Garanti Bank: „Ich bin | |
| auch ein Marodeur. Ich war auch am Taksim-Platz.“ | |
| Der kurze Sommer der Anarchie bringt die besten Seiten der Leute zum | |
| Vorschein. Merjem und Aydin, vom Alter eher Schüler als Studenten, laufen | |
| mit einem großen Müllsack in der Hand durch die Menge und sammeln jeden | |
| Papierschnipsel vom Rasen auf. Sie sind aus einem Vorort Istanbuls, aus | |
| Gaziosmanpascha – von da, wo es Leute gibt, die noch nie das Meer gesehen | |
| haben. | |
| Sie haben sich in aller Frühe auf dem Weg gemacht, am Abend müssen sie | |
| wieder zurück. Niemand hat ihnen gesagt sie sollen Müll aufsammeln, sie | |
| sind von selbst auf die Idee gekommen. „Es ist toll hier“, sagt Merjem und | |
| Aydin meint: „Ich hoffe, dass es noch lange so bleibt“. | |
| 5 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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