# taz.de -- Chancengleichheit im Bildungssystem: Der Wille allein macht’s nic… | |
> Die Mutter verschwand für Tage, David Chanders Noten wurden immer | |
> schlechter. Niemand fragte nach. Trotzdem hat er es später an die Uni | |
> geschafft. | |
Bild: Der Weg durchs deutsche Bildungssystem ist nicht immer schön | |
FREIBURG taz | David Chander* will etwas zeigen. Er greift nach einem Foto, | |
das er verstaut hat in seinem Schrank zwischen lauter alten Erinnerungen. | |
„Was denken sich wohl Leute, wenn sie so eine Mutter treffen?“, fragt er | |
und blickt auf das angegraute Foto in seiner Hand. | |
Eine blonde, korpulente Frau lächelt in die Kamera. Neben ihr sitzt ihr | |
damaliger Mann, David Chanders Vater. Der kam aus Indien, mit dem Traum von | |
einem besseren Leben in Deutschland. Aber die Ehe hielt nicht lange. Sie | |
kümmerte sich um die beiden Söhne, er um seine Karriere. Inzwischen hat er | |
sich ein kleines Restaurant aufgebaut. „Mein Vater ist sehr | |
geschäftstüchtig. Seine Priorität war immer das Geld“, sagt David Chander. | |
Seine beiden Söhne spielten keine große Rolle in seinem Leben. Er hat ja | |
nicht einmal Unterhalt für sie gezahlt. „Meine Mutter bezog meistens | |
Sozialhilfe“, sagt er und legt das Bild zurück in den Schrank. | |
David Chander scheut sich nicht, über seine Herkunft zu sprechen. Meist | |
klingt keine Bitterkeit durch, auch wenn es jetzt so vieles gibt, das | |
zwischen ihm und seinen Eltern liegt. Wenn er in einem Jahr sein | |
Bachelor-Studium im Fach Psychologie abschließt, wird er der erste | |
Akademiker in seiner Familie sein. | |
Damit gehört David Chander zu einer Minderheit in Deutschland. Wer aus | |
einer armen Familie stammt, schafft selten den sozialen Aufstieg. Der | |
Sozialerhebung des Bundesbildungsministeriums aus dem Jahr 2009 zufolge | |
fangen von 100 Nichtakademikerkindern 24 ein Studium an. Bei | |
Akademikerkindern sind es fast dreimal so viele. | |
## „Ich dachte, ich bin dumm“ | |
Eine Studie der Vodafone-Stiftung von 2012 kommt zu ähnlichen Ergebnissen: | |
Kinder aus bildungsfernen Schichten machen viel seltener Abitur als ihre | |
Altergenossen aus dem Bildungsbürgertum. Selbst von denen, die das Abi | |
schaffen, wagen sich immer weniger an die Universität. Die Herkunft scheint | |
entscheidend für die Zukunft eines Kindes, nicht Ehrgeiz oder Talent. „Es | |
hat sich lange niemand dafür interessiert, was ich mache“, sagt David | |
Chander. | |
Seine Mutter hat ein zweites Mal geheiratet und drei weitere Kinder | |
bekommen. Auch diese Ehe scheitert. Immer wieder zieht die Mutter neuen | |
Beziehungen hinterher und nimmt die Kinder mit. Nach Frankfurt, Fulda, | |
Köln, Groß-Gerau. | |
Wenn David Chander an damals zurückdenkt, sieht er sich selbst noch vor | |
sich, wie er seine jüngeren Geschwister ins Bett bringt. Da ist er gerade | |
13 Jahre alt. Er kocht, putzt, kümmert sich um die Geschwister. Manchmal | |
findet seine Mutter zeitweise eine Stelle als Buchhalterin in anderen | |
Städten. Dann kommt sie oft tagelang nicht nach Hause. | |
## In der achten Klasse verlässt er das Gymnasium | |
„Sie hat mir dann sogar Geld gezahlt“, sagt er, ein Vorwurf schwingt mit. | |
„Sie hat mir eingebläut, ich müsste für meine Geschwister da sein, wir | |
sollten zusammenhalten.“ Damals geht er noch aufs Gymnasium. Aber seine | |
Noten werden schlechter. In der achten Klasse muss er die Schule verlassen. | |
Niemand fragt nach, warum das geschieht, nicht seine Mutter, nicht sein | |
Vater und auch nicht seine Lehrer. „Lehrer interessieren sich erst dann für | |
einen, wenn man ihr Spiel mitspielt. Also dann, wenn man gute Noten hat“, | |
sagt David Chander. „Von da an dachte ich immer, ich bin dumm.“ | |
Draußen ist es dunkel geworden. David Chander sitzt am Esstisch in der | |
Küche und trinkt Tee. Die Tür hat er offen stehen lassen. Vor einer Stunde | |
hat er seinen zweijährigen Sohn Jona ins Bett gebracht. Als Chander leises | |
Weinen hört, steht er auf und geht zum Bett des Kindes. Er und seine | |
Freundin teilen sich den Haushalt, sie schreibt gerade ihre Doktorarbeit. | |
Mit ihren drei Kindern leben sie in einer Wohnung am Rand Freiburgs. „Ich | |
will immer alles unter Kontrolle haben“, sagt er. „Ich glaube, das ist von | |
früher hängen geblieben. Das ist einfach so drin.“ | |
## Die letzte Kartoffel | |
Mit 15 Jahren ist er überfordert mit seiner Verantwortung. Er hält sie | |
nicht aus, sie wächst ihm über den Kopf. Er läuft von zu Hause weg – und | |
wird nicht mehr wiederkommen. Er wohnt mal bei Freunden, mal im Heim. Aber | |
er geht weiter zur Schule. „Ab und an habe ich ein bisschen Geld von meinen | |
Eltern bekommen. Aber irgendwann bin ich zum Sozialamt“, erzählt er. Doch | |
in dieser Zeit lernt er auch Freundschaft kennen, und Solidarität. „Ein | |
Freund von mir, Timo, ein Straßenmusiker, hat mir seine letzte Kartoffel | |
gegeben, als ich wirklich Hunger hatte.“ | |
Er macht seinen Abschluss an der Realschule, danach fliegt David Chander | |
zur Familie seines Vaters nach Indien. Er will seine Verwandten | |
kennenlernen. Heute glaubt er, dass diese Reise ein Wendepunkt in seinem | |
Leben war. Zum ersten Mal erfährt er, was Familie bedeuten kann: Eine | |
Großmutter, die ihm Hemden kauft, für ihn kocht, ihn in indische | |
Traditionen einführt. „Meine Verwandten haben mich immer wieder gefragt, | |
was ich machen möchte.“ Doch er konnte es ihnen nicht sagen. So, als hätte | |
er sich dafür geschämt, beschließt er, sein Abitur nachzuholen. | |
Doch zunächst fügt er sich dem Wunsch seines Vaters und macht eine Lehre | |
als Koch. „Ich dachte, es würde der Beziehung zu meinem Vater guttun.“ | |
Heute aber vermeidet David Chander den Kontakt, sowohl zu seinem Vater als | |
auch zu seiner Mutter. „Mein Vater legt viel Wert auf Anzüge und teure | |
Uhren. Er kann es nicht leiden, wie ich herumlaufe“, sagt er und deutet auf | |
seine Kapuzenjacke. | |
Seine eigenen Kinder haben die Großeltern noch nicht oft gesehen. Es ist | |
nicht so, dass er sich für seine Mutter schämt, „aber für mich ist dieser | |
Lebensabschnitt einfach vorbei. Ich will mich davon lösen.“ Die | |
Enttäuschung, dass seine Eltern bis heute nicht wissen, was er tut – und | |
seine Leistung nicht anerkennen, sitzt tief. | |
## Der Wendepunkt kommt in Indien | |
Aber woran liegt es, dass David Chander es trotzdem geschafft hat, seinen | |
Weg zu gehen? Die Antwort führt zurück nach Indien. Er hatte dort seinen | |
Zivildienst gemacht. Chander ist sicher, dass die Begegnungen damals den | |
entscheidenden Anstoß gegeben haben. | |
Er arbeitet an einem Stadtprojekt mit, wo er auf andere Zivis trifft, die | |
gerade Abi gemacht haben. „Da habe ich gemerkt, die sind auch nicht | |
schlauer als ich“, sagt er. Er lernt aber noch mehr: Die Dinge anpacken, | |
Initiative zeigen, Entscheidungen treffen. „Vorher“, sagt er, „habe ich | |
immer darauf gewartet, dass man mir Aufgaben gab.“ | |
Zurück in Deutschland, geht plötzlich alles ganz schnell: Er lernt seine | |
Freundin kennen, zieht nach Freiburg. Er macht sein Abitur nach und beginnt | |
zu studieren. Noch während seiner Abiturzeit hatte er von Stipendien | |
erfahren. Chander weiß, dass gute Noten allein nicht ausreichen. Also macht | |
er noch eine Ausbildung zum Trainer für gewaltfreie Kommunikation. | |
## „Den heroischen Einzelkämpfer gibt es nur im Film“ | |
Bei der Friedrich-Ebert-Stiftung soll Soziologie-Professor Albert Scherr | |
über seine Bewerbung entscheiden. Er staunt bei dem Gespräch: Erst blickt | |
er auf Chander, dann auf dessen Lebenslauf, dann wieder auf Chander. Scherr | |
schreibt ihm ein Gutachten. Die Stiftung nimmt ihn auf. Chander sei sehr | |
reflektiert und engagiert, sagt Scherr. | |
Der Freiburger Soziologe beschäftigt sich mit den „unwahrscheinlichsten | |
Bildungsprozessen“, wie er es nennt. „Viele Wissenschaftler interessiert, | |
warum Jugendliche aus bildungsfernen Schichten es nicht schaffen, einen | |
höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Mein Ansatz ist genau umgekehrt: | |
Warum klappt es manchmal doch?“ | |
Scherr warnt davor, aus den Studien die falschen Schlüsse zu ziehen. Zwar | |
sei vielen inzwischen klar, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der | |
Herkunft und den Bildungserfolgen der Kinder. „Wenn wir uns aber an den | |
Gedanken gewöhnen, besteht die Gefahr, dass Lehrer es als normal ansehen, | |
dass Kinder aus bildungsfernen Familien auch schlechtere Noten haben.“ | |
Weder Intelligenz noch Ehrgeiz noch ein starker Wille sei ausschlaggebend: | |
„Den heroischen Einzelkämpfer gibt es nur im Spielfilm. Im wahren Leben | |
braucht es Ermutigung.“ | |
## Pause am Schließfach | |
Seinen Vormittag verbringt David Chander in der Bibliothek der Uni. In der | |
Pause steht er an seinem Schließfach im Eingangsbereich. Dort trifft er | |
alle paar Minuten auf jemanden, den er kennt: Man grüßt sich, redet kurz | |
über die Vorlesung oder eine Prüfung. Die meisten Kommilitonen sind jünger | |
als er. „Viele können die Dinge leichter nehmen als ich“, sagt er. „Sie | |
hatten ja Zuspruch aus der eigenen Familie und haben damit auch ein ganz | |
anderes Selbstverständnis.“ | |
Chander hatte am Anfang Angst, das Studium nicht zu schaffen. Er hörte, wie | |
die anderen davon sprachen, wie viel sie für die Uni tun. „Das hat mich | |
anfangs sehr beeindruckt. Aber ich bin einfach nur auf den Uni-Bluff | |
hereingefallen“, sagt er und grinst. | |
David Chander weiß, dass sein Lebensweg nicht selbstverständlich ist. Aber | |
immerhin war seine Vergangenheit bei der Bewerbung um das Stipendium wohl | |
auch ein Pluspunkt. Heute ist er Stipendiatensprecher, organisiert | |
Stammtische. „Natürlich mache ich das nicht ganz uneigennützig. Aber | |
berechnend sind doch alle, oder?“, sagt er, so als müsse er sich | |
rechtfertigen. | |
Dann setzt er nach: „Ich weiß jetzt eben, wie wichtig Beziehungen zu | |
anderen sind, die einem vielleicht einmal helfen können.“ Denn ohne die | |
Unterstützung von außen und die Menschen, die ihn motiviert und gefördert | |
haben, wäre er womöglich jetzt nicht hier. David Chander hält sich nicht | |
für überdurchschnittlich intelligent, wohl aber für ehrgeizig. „Aber das | |
reicht nicht“, sagt er. „Der Wille allein rennt gegen die Wand.“ | |
*Name von der Redaktion aus Datenschutzgründen geändert | |
6 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Christina Schmitt | |
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