| # taz.de -- Ein paar Worte zu Hoden: Zarter Biss, nussiger Geschmack | |
| > Leckere Genitalien, Stierhoden sind gemeint, verschwinden in Europa von | |
| > den Speisekarten. Dabei gilt: Ob Stier, ob Mensch – Genießer genießen. | |
| Bild: Bereit für den Kochtopf: Schweinehoden bei der „World Testicle Cooking… | |
| Dieses Wochenende haben sie beim Testy Festy in der Kleinstadt Clinton im | |
| US-Bundesstaat Montana bestimmt wieder viel Spaß. Die Gemeinde Clinton ist | |
| ungefähr so bedeutend wie Kirchentellinsfurt in der Nähe der Schwäbischen | |
| Alb, und ähnlich vielfältig sind dort das soziale Gefüge und das kulturelle | |
| Angebot. | |
| Aber einmal im Jahr, eben dieses Wochenende, ist in Clinton wirklich der | |
| Bär los. Sie kommen von überallher, um den kulinarischen Höhepunkt des | |
| Festivals nicht zu versäumen: den „ball eating contest“. Stierhoden werden | |
| in allen Variationen zubereitet, gegrillt, geschmort, gebacken. | |
| Hoden heißen auf Englisch testicles und erinnern damit, anders als im | |
| Deutschen, noch an den Ursprung des Wortes: an den Zeugen. Bei uns hat sich | |
| der Wortstamm nur noch im Erzeuger erhalten, also jenem männlichen Wesen, | |
| der dank seiner Hoden die Fortpflanzung garantiert. | |
| Da sind wir aber auch schon beim Problem: Weil die Hoden irgendwie mit Sex | |
| zu tun haben, ist es schwierig, ruhig und objektiv über sie reden. Die | |
| einen fangen sofort zu kichern an, die anderen machen obszöne Bemerkungen, | |
| und die dritten denken an Oliver Kahn. Ich möchte heute versuchen, ruhig | |
| und objektiv über Hoden zu reden. | |
| ## Herz und Hirn – ja. Aber Hoden? | |
| Hoden gehören, funktional betrachtet, zu den primären Geschlechtsmerkmalen | |
| von Säugetieren. Kulinarisch zählen sie zu den Innereien. Was die | |
| menschlichen Hoden angeht, so sind sie pflaumengroß und wiegen etwa 20 | |
| Gramm. Für die Küche interessanter sind dagegen Kalbs- oder Stierhoden (50 | |
| bis 100 Gramm) oder Lammhoden. | |
| Mir ist es ein Rätsel, weshalb ich auf deutschen Speisekarten noch nie auf | |
| sie gestoßen bin. Hirn, Bries, Nieren, Herz, alles findet man. Aber Hoden? | |
| Selbst der Papst der Innereien, der Stuttgarter Starkoch Vincent Klink, | |
| traut sich nicht, Hoden auf die Karte zu setzen. Fast ist man geneigt zu | |
| sagen: Die deutschen Köche haben keine Eier. Aber weil ich ruhig und | |
| objektiv sein will, sage ich es nicht. | |
| Wäre ich vor zweihundert Jahren geboren, ich hätte von England bis Spanien | |
| Hunderte von Hodenrezepten gefunden. Sie galten als Spezialität, und bei | |
| einer Hausschlachtung war es Ehrensache, die Hoden dem Schlachter zu | |
| überlassen. Manche aßen sie allerdings nicht nur wegen ihres zarten Bisses | |
| oder ihres nussigen Geschmacks. Bis heute hält sich in manchen abgelegenen | |
| Gebirgsregionen (siehe Clinton, Montana) der Aberglaube, der Verzehr von | |
| Stierhoden erhöhe die eigene Fruchtbarkeit. Doch mit zunehmender | |
| Industrialisierung der Landwirtschaft und Globalisierung der | |
| Nahrungsaufnahme gingen die Hoden irgendwo verloren. | |
| ## Endlich in Hermannstadt | |
| Als ich sie zum ersten Mal auf einer Speisekarte fand, war ich verzückt. Es | |
| war vor einem Jahr in Rumänien. Das Lokal lag in einem Außenbezirk von | |
| Sibiu (Hermannstadt) und war mir wegen seiner Kuttelsuppe (ciorba de burta) | |
| empfohlen worden. Dann las ich auf der mit einer alten Schreibmaschine | |
| getippten Karte das Wort „testiculele“ und war elektrisiert. Sollten sie | |
| hier tatsächlich …? Sie sollten. | |
| Die junge Kellnerin verzog keine Miene, als ich testiculele bestellte (was | |
| beweist, dass man in Rumänien ruhig und objektiv über Hoden reden kann). | |
| Sie waren aufgeschnitten und am Stück gebraten, und sie schmeckten, na ja, | |
| interessant. Für alle, die vielleicht noch nicht wissen, wohin im Urlaub: | |
| Das Lokal heißt Kon Tiki und liegt in der Tudor Vladimiresco Straße Nummer | |
| 12. | |
| 7 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Mausshardt | |
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