# taz.de -- Kommentar Doping in Westdeutschland: Die Schuhe der Wahrheit | |
> Dass auch in der alten Bundesrepublik systematisch gedopt wurde, ist | |
> spätestens seit 1977 bekannt. Bereits neun Jahre zuvor wurde zum Thema | |
> geforscht. | |
Bild: Kamen schon 1968 im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung an der U… | |
Vorweg ein unerhebliches Geständnis: Ich habe in meiner fast 50-jährigen | |
Laufbahn als Sportjournalist nie zuvor eine Zeile für die taz geschrieben. | |
Ein Spät-, keineswegs ein Fehlstart. Ich bin mir allerdings nicht ganz | |
sicher, wie die Leser darauf reagieren, dass ausgerechnet der langjährige | |
Präsident des DDR-Sportjournalistenverbandes – demzufolge ein Kommunist – | |
erklären will, dass in der alten BRD vor 1989 hemmungsloser gedopt worden | |
ist als in der DDR. | |
Jede Antwort führt geradewegs zur nächsten Frage, nämlich wie zu erklären | |
wäre, dass die Alt-BRD aus dem heiteren Himmel des Jahres 2013 plötzlich | |
wie beim Skat-Null-Ouvert alle Dopingkarten auf den Tisch blättert? Die taz | |
hatte ihre Bitte um einen Beitrag denn auch korrekt mit der Feststellung | |
begründet, „dass der DDR-Sport aufgrund der Dopingvorwürfe lange per se | |
diskreditiert wurde, während der Sport der alten BRD als ’sauber‘ galt. Das | |
hat sich nach den jüngsten Veröffentlichungen geändert. Was bedeutet das?“ | |
Eine auf den ersten Blick kaum zu klärende Frage, aber keine unlösbare. | |
Gemeinsam mit Prof. Margot Budzisch und Dr. Heinz Wuschech habe ich 1999 | |
das Buch „Doping in der BRD. Ein historischer Überblick zu einer | |
verschleierten Praxis“ verfasst. Der Verein Sport und Gesellschaft – ein | |
Kollektiv ehemaliger DDR-Trainer, -Wissenschaftler, -Ärzte und -Historiker | |
– hat es herausgegeben. Die taz hat dem nach meiner Erinnerung nicht einmal | |
eine Fußnote gewidmet. Dabei – und das ist keine Werbung! – beantwortete | |
das Buch im Grunde schon damals die Frage, nämlich einfach, indem die | |
Autoren alte Bundestagsakten durchblätterten. | |
Am 17. März 1977 hatte der Parlamentarische Staatssekretär von Schoeler im | |
Bundestag folgende Frage des SPD-Abgeordneten Büchner zu beantworten: „Wie | |
beurteilt die Bundesregierung die besonders nach den Olympischen Spielen | |
1976 in Montreal bekannt gewordene medikamentöse Beeinflussung des | |
Hochleistungssports und die Tatsache, dass auch Sportler aus der | |
Bundesrepublik Deutschland mit zweifelhaften medizinischen Hilfen versorgt | |
wurden?“ (Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, 18. Sitzung, 17. 3. 1977, | |
Seite 1.113) | |
## Weit ausgeholt | |
Der Staatssekretär hatte weit ausgeholt: „Es wäre – wie der Herr | |
Bundeskanzler anlässlich des Empfangs der deutschen Olympia-Mannschaft am | |
9. September 1976 ausgeführt hat – eine verhängnisvolle Fehlentwicklung, | |
wenn aus einem Sport mit Rekorden ein Sport aus Retorten würde. | |
Andererseits sind die Grenzen zwischen physiologischen und | |
unphysiologischen Hilfen zur Förderung der individuellen Leistung des | |
Spitzensportlers fließend. Will man mit der Weltspitze des Sports Schritt | |
halten, wird nicht von vornherein jede Form der Leistungsförderung | |
ausgeschlossen werden können. Was sich in jahrelanger Praxis [!] bewährt | |
hat, kann auch unseren Athleten nicht vorenthalten werden. Die | |
Bundesregierung stimmt jedoch mit Ihnen darin überein, dass es bei den | |
Olympischen Spielen in Montreal in Einzelfällen auch zweifelhafte | |
medizinische Hilfen gegeben hat.“ | |
Niemand, der die obligaten Akten – und nicht nur die des MfS! – studierte, | |
hätte also bis 2013 warten müssen, um zu erfahren, dass die Bundesregierung | |
schon 1977 Doping faktisch empfohlen und sogar „zweifelhafte medizinische | |
Hilfe“ eingeräumt hatte. | |
Und um vielleicht sogar herauszufinden, wann man in der BRD damit begonnen | |
hatte, Doping flächendeckend und wissenschaftlich zu praktizieren, sei der | |
Sprinter Manfred Steinbach benannt, der als Wissenschaftler bereits im | |
November 1968 an der Universität Mainz zum Thema Doping geforscht und die | |
Ergebnisse in der in Köln erscheinenden Zeitschrift Sportarzt und | |
Sportmedizin publiziert hatte: | |
„In erklärlicher Sorge, ins Hintertreffen zu geraten, wird der Sportarzt | |
ständig mit entsprechenden Wünschen von den Athleten angegangen (…) Diese | |
Tendenzen gaben den Anstoß zur vorliegenden Untersuchung. [?] 125 Jungen im | |
Alter von 17 bis 19 Jahren wurden 3,5 Monate lang in einer | |
Untersuchungsreihe erfasst (…) Jeweils 13 Probanden der Gruppen C und D | |
beschränkten sich dabei auf das Beintraining, die restlichen 12 auf ein | |
Armtraining. [?] Wir halten fest, dass das verabfolgte Anabolicum die | |
Zunahme des Körpergewichts deutlich heraufsetzt (…) Bedeutsam aber ist die | |
Tatsache einer einwandfreien Erhöhung der Armkraft-Zuwachsrate bei | |
ebenfalls nur 40-prozentiger Belastung und gleichzeitiger Dianabolgabe.“ | |
(Steinbach: „Über den Einfluss anaboler Steroide“. Sportarzt und | |
Sportmedizin 11/1968, Seite 485 f.) | |
## Versuchsreihe mit Jugendlichen | |
1971 war dieser flächendeckenden Versuchsreihe mit Jugendlichen eine | |
weitere gefolgt, über die Dr. Keul im April 1971 auf einem | |
Sportärztetreffen in Davos (Schweiz) in aller Öffentlichkeit Auskunft gab. | |
Es handelte sich um Untersuchungen an fünfzehn Schwerathleten. Von den | |
fünfzehn, seit Jahren im Training stehenden Gewichthebern erhielten acht | |
für drei Monate alle vierzehn Tage eine Injektion mit einem derartigen | |
anabolen Hormon, und sieben nicht. Alle führten ihr Training unverändert | |
fort. Während die sieben nicht behandelten Gewichtheber ihre Leistung etwa | |
auf der gleichen Höhe halten konnten, wiesen die acht gespritzten Athleten | |
eine deutliche Leistungsverbesserung auf: Alle acht überboten ihre | |
bisherigen persönlichen Bestleistungen. | |
Ist das nun Doping oder nicht? Dr. Keul hat diese Frage verneint. Für die | |
Praxis kommt noch hinzu, so der Sportarzt laut FAZ vom 28. 4. 1971, dass es | |
keine Möglichkeit gibt, den Gebrauch dieser Mittel in irgendeiner Form | |
nachzuweisen. | |
Und immer noch bliebe da die Frage, warum man so lange die Wahrheit | |
unterdrückte. Die Antwort gab ein kluger Mann, der nie im Sport eine | |
Medaille gewonnen hatte, nämlich der amerikanische Schriftsteller Mark | |
Twain (1835–1910): „Eine Lüge ist dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich | |
die Wahrheit die Schuhe anzieht.“ Ein Jahrhundert später erweist sich, wie | |
sehr er damit richtig lag. | |
13 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Klaus Huhn | |
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