Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Soziologe über Parteiprogramme: „Wachstum ist schlicht unerträg…
> Die Parteien haben keine Vorstellung mehr von Fortschritt und
> Gerechtigkeit, sagt Claus Offe. Sie sind zu sehr mit der Vertuschung von
> Rückschritten beschäftigt.
Bild: Schön wär's: Bei Null-Fortschritt einfach mal nichts tun
taz: Politische Parteien werben damit, das Leben der Bürger besser zu
machen. Doch das Wort „Fortschritt“ findet man in ihren Programmen kaum
noch. Warum ist dieser Begriff aus der Mode gekommen?
Claus Offe: Kaum jemand hat eine handfeste Vorstellung davon, wie dieser
Begriff zu füllen wäre. Innovation? Wachstum? Vollbeschäftigung?
Gerechtigkeit? Nachhaltigkeit? Fortschritt für wen und auf wessen Kosten?
Es fällt der Politik schwer, diese Dinge in einen gedanklichen, geschweige
denn praktischen Zusammenhang zu bringen. Das macht aber nichts. Die
Politik hat sowieso alle Hände voll damit zu tun haben, Krisen zu managen,
Bestände zu sichern, die Mindestabstände zu diversen Abgründen zu wahren.
Nehmen Sie Artikel 10, das Grundrecht auf private Kommunikation. Oder
nehmen Sie den Begriff „Vollbeschäftigung“ - jede(r) Arbeitssuchende findet
eine sozialversicherte, tariflich bezahlte Vollzeitstelle: der ist in
Europa selbst auf der deutschen Insel der Seligen unaktuell. Die Politik
ist statt mit Fortschritt mit der Bewältigung oder auch der verharmlosenden
Vertuschung von akuten Rückschritten befaßt.
Wie die Wahlprogramme für die Bundestagswahl zeigen, verfügt nur die alte
SPD über einen umfassenden Begriff von Fortschritt: Ihr geht es unter
anderem um die Entfaltung des Individuums. Union und FDP reduzieren den
Fortschritt dagegen auf technische Innovation und Wirtschaftswachstum. Und
die jungen Parteien der Grünen und Linken reden kaum davon. Warum kommt den
Parteien offenbar der Optimismus abhanden?
Ein Grund ist, dass angebliche Fortschritte in der Vergangenheit erhebliche
Zerstörungen verursacht haben. Denken Sie an Tschernobyl und Fukushima:
Wachstum „wie gehabt“ ist schlicht unerträglich. Vielleicht geht das
Wachstumsmodell der industriekapitalistischen Modernisierung, das wir seit
Ende des 18. Jahrhunderts praktizieren, seinem Ende entgegen.
Wirtschaftswachstum findet in der OECD-Welt immer weniger statt, auch nicht
unter künstlicher Beatmung seitens der Geldindustrie. Eine amerikanische
Prognose besagt, dass die Expansion Mitte des 21. Jahrhunderts ausläuft.
2011 fand schon mehr als die Hälfte des globalen Zuwachses in China und
Indien statt. Andererseits hat kaum jemand eine Vorstellung, wie man unter
anhaltender Stagnation leben und regieren, vor allem investieren und
arbeiten könnte oder sollte. Außerdem ist gut belegt, dass Wachstum nicht
die allgemeine Lebenszufriedenheit steigert, also als „fortschrittlich“
auch erlebt wird.
Aber ohne Wachstum können wir auch nicht leben?
So ist es. Wir stecken in einer Sackgasse. Wie wir da rauskommen, weiß
niemand. Vielleicht, indem wir einen Gedanken des klassischen Ökonomen J.
S. Mill von 1848 ernst nehmen: die Utopie einer lebbaren Stagnation,
Null-Wachstum bei dennoch oder gerade deswegen steigender Lebensqualität
und -zufriedenheit. Viele Leute beschäftigen sich heute, im Alltagsleben,
in der Wissenschaft, sogar in der Politik mit der Frage, wie so etwas
organisiert sein könnte.
Trotzdem hat es durch Wirtschaftswachstum enorme Fortschritte gegeben. In
China und anderen „Schwellenländern“ wurden Hunderte Millionen Menschen aus
Not und Armut befreit. Das kapitalistische Weltsystem ist immer noch
erstaunlich erfolgreich.
Das ist wahr und bleibt selbst dann wahr, wenn man die fälligen
ökologischen, menschenrechtlichen und sicherheitspolitischen Kosten und
Risken gegenrechnen wollte. Nur hilft diese Einsicht wenig für die aktuelle
Situation der OECD-Welt. Seit 1990 hat sich das effektive globale
Arbeitsangebot verdoppelt. Frauen und Männer, deren Eltern Subsistenzbauern
in Bangladesh waren, arbeiten heute als Hausangestellte und Bauarbeiter in
den Emiraten. Und Autos werden natürlich zunehmend von chinesischen
Arbeitern gebaut, mit mittelfristigen Effekten für Plätze wie Wolfsburg
oder Ingolstadt.
So wird, jedenfalls ohne gewaltige Einkommensverbesserung in den
Schwellenländern und einen entsprechenden Nachfrageschub, bei Stagnation
der reichen Ländern und anhaltenden Produktivitätsgewinnen ein globales
Überangebot an Arbeitskräften absehbar, das wiederum die Löhne und
Sozialeinkommen weltweit unter Druck setzt.
Vielleicht setzt die nächste technologische Revolution einen neuen langen
Wachstumszyklus von Investitionen, Profit, Nachfrage und
Wohlstandssteigerung in Gang?
Die ist bislang nicht absehbar. Sie müßte eine sein, die nicht nur viel
Kapital, sondern auch viel Arbeitskraft absorbiert - wie es bei Eisenbahn
oder Auto der Fall war. Selbst die Kriegführung ist heute nicht mehr
personalintensiv, sondern findet zunehmend am Bildschirm statt. Da scheint
das Szenario einer „Postwachstumsgesellschaft“ weit realistischer.
Wie können wir uns Stagnation ohne Minderung des erlebten Wohlergehens
leisten? Wie müssen wir unsere Vorstellung von Wohlergehen neu
buchstabieren? Mit solchen Fragen beschäftigen sich heute viele kleine
Denkfabriken, ohne dass eine praktikable Antwort absehbar wäre. Ein Ansatz
könnte sein, das Arbeitsangebot zeitlich zu kürzen, z. B. auf 21 Stunden
pro Woche, und den Rest der Zeit mit anderen nützlichen Tätigkeiten statt
mit Marktarbeit zu verbringen. Auch ein zeitlich beschränktes oder
partielles bedingungsloses Grundeinkommen könnte eine Option sein.
Die Emanzipation vom Wachstumszwang setzt jedenfalls die Befreiung vom
Zwang zur Erwerbsarbeit voraus, für die Wachstum ja angeblich sorgt. Das
wäre das Gegenteil von dem, was uns die Sozialdemokraten über „sozialen
Aufstieg für alle“ erzählen. Es geht vielmehr darum, den sozialen Abstieg
derjenigen zu verhindern, die für den Arbeitsmarkt überflüssig sind oder
ins „Prekariat“ abgeschoben werden. Aber wer wollte so etwas dem wählenden
Publikum als Perspektive anbieten?
Trotz allem produziert das alte System immer noch zivilisatorischen
Fortschritt - in Europa beispielsweise in Gestalt der über Jahrzehnte
friedensstiftenden Kooperation zwischen den Nationalstaaten. Wäre es nicht
die Aufgabe von Politikern, die Gleichzeitigkeit von Fortschritt und
möglichem Rückschritt ehrlich zu thematisieren, um aufgeklärte öffentliche
Entscheidungen zu ermöglichen?
Auch die europäische Integration und ihr „Fortschritt“ ist beides: eine
marktschaffende Liberalisierungsmaschine, die sich der politischen Zähmung
weitgehend entzogen hat, und Gegenstand (schwacher) Hoffnungen, dass man
die „Märkte“ dennoch irgendwie politisch einholen und an die Leine legen
kann.
Will sagen: Der fortschreitenden wirtschaftlichen Arbeitsteilung auf dem
Kontinent und der gemeinsamen Währung steht noch keine europäische
Demokratie gegenüber, keine gemeinsame Finanz-, Sozial- und
Wirtschaftspolitik. Nur so könnte man den eindeutigen Rückschritt
aufhalten, der in der Europäisierung der Märkte bei gleichzeitiger
Renationalisierung der politischen Mentalitäten und Staaten besteht.
Wo manifestiert sich diese Gefahr des Rückschritts?
Die „Peripherie“ ist Szene großer sozialer Notstände. In Ungarn,
Griechenland und anderswo gewinnen „anti-politische“, antidemokratische,
teilweise offen faschistische Parteien und Bewegungen Zulauf. Es besteht,
wie wir wissen, die akute, in unserem Wahlkampf freilich lautstark
beschwiegene Gefahr einer explosiven Spaltung der Währungsunion: das
„deutsche“ Europa gegen die „Peripherie“.
Die weitere Vertiefung dieser Spaltung wäre auch wirtschaftlich ein
Rückschritt, gerade für die vermeintlichen Gewinner. Finanzminister
Wolfgang Schäuble hat sinngemäß gesagt: Wenn so etwas wie der Zusammenbruch
der US-Bank Lehman Brothers 2008 mit allen seien Folgen noch einmal
passiert, dann können wir alle unsere Vorstellungen von liberaler
Demokratie und Marktwirtschaft beerdigen. Hat die Politik seither dafür
gesorgt, dass es nicht noch einmal passieren kann? Es sieht nicht so aus.
Die Optionen auf den Tisch zu legen, ist einer demokratischen Nation wie
Deutschland durchaus zuzumuten. Warum findet das nicht statt?
Jürgen Habermas hat den treffenden Ausdruck: Das „Dösen auf dem Vulkan“, …
dem unsere regierenden Eliten sich gefallen: die teils opportunistische,
teils einfach gedankenlos-schläfrige Art, die größten Herausforderungen der
Zeit unbenannt, undebattiert und unentschieden zu lassen.
Die Politik verweigert die Auskunft darüber, was passieren wird, was
passieren sollte, und was passieren kann, wenn nichts passiert. Sie ist,
abseits der Öffentlichkeit, vom Krisenmanagement okkupiert und schon
deswegen unfähig, eine Vorstellung des Fortschritts zu finden, der sie
befähigen würde, den Rückschritten verlässlich Einhalt zu gebieten.
20 Sep 2013
## AUTOREN
Hannes Koch
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Fortschritt
Wahlprogramm
Wachstum
Wahlbeteiligung
Wachstum
Gewerkschaft
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Parlament
Schwerpunkt Angela Merkel
Parteiprogramm
Soziale Gerechtigkeit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Konferenz „Degrowth“ in Leipzig: Wachstum an den richtigen Stellen
Im September soll die Frage nach dem wahren Fortschritt diskutiert werden.
Ein Gastbeitrag über ein schon in sich innovatives Treffen.
Endspurt bei der Bundestagswahl: Andrang an den Urnen
Am frühen Nachmittag lag die Wahlbeteiligung um fünf Prozent höher als
2009. Überraschung: Auch Merkel und Steinbrück gingen wählen.
Wahlkampf in der WG: Wachstumskritik und vegane Suppe
Warum nicht mal umgekehrt? Parteien kämpfen mit Plakaten und Hausbesuchen.
Eine Berliner WG zeigt, dass es auch anders geht.
Sternmarsch Umfairteilen: 2,6 Millionen Euro am Tag
Tausende demonstrieren für ein gerechteres Steuersystem. Gewerkschaften und
andere Aktive wollen mehr Ausgleich zwischen arm und reich.
Letzte Umfrage vor der Wahl: Die Opposition holt auf
SPD, Grüne und Linke kommen im neuesten „Deutschlandtrend“ zusammen auf 46
Prozent. Union und FDP erreichen 45 Prozent.
Sachbuch über Demokratie: Bürgerbeteiligung per Losverfahren
In einem von Klaus Töpfer herausgegegeben Buch plädiert der
Regierungsberater Claus Leggewie für eine „Zukunftskammer“ parallel zum
Bundestag.
Kommentar zum Wahlkampf: Hilfe, meine Freunde wählen CDU!
Wenn Freunde mit linker Vergangenheit plötzlich rechts wählen – was ist da
schiefgelaufen? Angeblich liegt es am abgedroschenen Dualismus der Linken.
Parteiprogramme abgeklopft: Der große taz-Wahltest
Ein Wahlkampf mit nichts als heißer Luft? Alle Parteien wollen das Gleiche?
Von wegen. Hier gibt's in Folge den Programm-Check.
Debatte Soziale Gerechtigkeit: Die Löhne müssen steigen
Die Debatte über Gerechtigkeit konzentriert sich seit Jahren auf die
Sozialpolitik. Das ist falsch. Die Umverteilung von unten nach oben ist das
Problem.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.