# taz.de -- Merkels EU-Politik: Ein schwarzer Tag für Europa | |
> Weil Rot-Grün versagt, kann Angela Merkel ihre Europapolitik fortführen. | |
> Für die Mitgliedsstaaten der EU ist das die denkbar schlechteste | |
> Nachricht. | |
Bild: Ein Schatten liegt über Europa. | |
Die schlechteste Bundeskanzlerin der deutschen Nachkriegsgeschichte bleibt | |
also im Amt – und diese Charakterisierung als „die schlechteste“ bleibt | |
auch wahr, wenn man sich die Genderformulierung wegdenkt. Zwar ist sie | |
zerzaust und könnte sich in eine Große Koalition gezwungen sehen, und zwar | |
mit einer SPD, die im Unterschied zur Kanzlerin eine Alternative hätte. | |
Aber sehr viel ändern würde das nicht. | |
Zwei Sachverhalte sind in diesem Zusammenhang wichtig. Erstens: Der | |
Wahlsieg der Kanzlerin stand nie wirklich infrage, Rot-Grün gelang es in | |
keinem Moment, glaubwürdig ein wirkliches Alternativprogramm zu formulieren | |
oder eine Wechselstimmung zu entfachen. Zweitens: Die Schlüsselfragen | |
unserer Zeit blieben in diesem Wahlkampf auf seltsame Weise ausgespart. | |
Diese beiden Tatsachen hängen möglicherweise zusammen. | |
Angela Merkel hat als Regierungschefin manche Dinge getan – und, anders | |
gesagt, auch vieles unterlassen –, wofür sie eine kleine Abfuhr an den | |
Urnen verdient hätte. Aber die wirkliche Katastrophe der Merkel-Regierung | |
ist ihre Europapolitik. Die wurde in diesem Wahlkampf aber nur in Details | |
thematisiert, die „intellektuelle“ Grundlage dieser Politik wurde von der | |
Opposition nie herausgefordert. | |
Wenn es die Opposition nicht schafft, den Wählern zu vermitteln, welches | |
Debakel Merkel und ihre Regierung angerichtet haben, braucht sie auch nicht | |
zu hoffen, dass eine Regierung abgewählt wird. | |
## Bankenrettungen und Staatspleiten | |
Dass die Politik Merkels nur den Banken und Finanzinvestoren in den reichen | |
EU-Staaten geholfen hat, denen ihre faulen Investments abgenommen wurden, | |
und sowohl die Bürger der Krisenstaaten (durch verschärfte | |
Austeritätspolitik) als auch die Steuerzahler der noch relativ stabilen | |
Staaten die Zeche bezahlen lässt, für diese Wahrheit haben Sozialdemokraten | |
und Grüne nicht sehr offensiv in diesem Wahlkampf getrommelt. | |
Dass diese Austeritätspolitik nicht funktioniert. Dass geschundene Nationen | |
wie Griechenland einen Schuldenschnitt brauchen, damit sie wieder auf die | |
Beine kommen. Dass die EU einen fundamentalen Kurswechsel benötigt: all das | |
wurde nicht thematisiert. Dass Merkel mit ihrer Politik, die „solide“ gegen | |
„unsolide Länder“ aufhetzte, die EU an den Rande des Kollaps brachte – w… | |
hat das im Wahlkampf mit Verve vertreten? Niemand. | |
Was haben sich Sozialdemokraten und Grüne dabei gedacht? Eine mögliche | |
Deutung wäre, dass sie im Grunde selbst keine fundamentalen, sondern | |
höchstens technische Differenzen zum Merkel-Kurs haben. | |
Der Realität näher kommt folgende Deutung: Sie dachten, mit EU-Themen sei | |
kein Besenstiel zu gewinnen. Sie dachten, mit solchen politischen Konzepten | |
würden sie bei den Wählern nicht durchkommen. Um eine solche Kritik | |
plausibel vorzubringen, müssten derart komplexe ökonomische Zusammenhänge | |
erörtert werden, dass man damit in einem Wahlkampf nur scheitern könnte. | |
Und am Ende würde nur hängen bleiben: Rot und Grün wollen deutsches | |
Steuergeld einsetzen, um faule Südländer und die kaputte EU zu sanieren. | |
Dann würde sich Merkel als die darstellen, die über deutsches Geld wacht. | |
Man könne damit leider nur verlieren. Kurzum: Man thematisierte das | |
historische Versagen der Merkel-Regierung aus Feigheit vor dem Wähler | |
nicht. | |
## Rot-Grün und die Flucht vor dem Europathema | |
Stattdessen flüchtete man sich in andere Thematiken, die im Kontext des | |
Großthemas „soziale Gerechtigkeit“ nicht unbedeutend sind: Mindestlöhne, | |
höhere Spitzensteuersätze für Höchstverdiener und anderes. Alles wichtig, | |
aber nicht ausreichend, um die Legitimität einer Regierung infrage zu | |
stellen, die bei diesen Themen nicht optimal, aber auch nicht katastrophal | |
agiert hat. Vor allem: Es bleiben Einzelthemen, wenn man sie nicht in ein | |
plausibles Konzept einbettet, wie die Euro-Ökonomien wieder auf | |
Prosperitätskurs gebracht werden können. | |
Die Wähler sind nicht dumm. Mögen sie auch über komplexe ökonomische | |
Zusammenhänge nicht immer Bescheid wissen, so haben sie eine instinktive | |
Ahnung davon, dass unsere Volkswirtschaften auf Messers Schneide stehen, | |
dass die Finanzmärkte nicht gebändigt sind, dass die Eurozone noch immer in | |
schwerem Fahrwasser ist. | |
Dass diese Fragen aber im Wahlkampf nicht annähernd in ihrer ganzen Brisanz | |
zur Sprache kamen, führte zu einem verbreiteten Gefühl: dass das, worum es | |
wirklich geht, gar nicht zur Debatte steht. Die Opposition hatte zu diesen | |
Themen nichts substanziell anderes zu sagen als die Regierung und hoffte | |
irgendwie im Schlafwagen an die Macht zu kommen. Jetzt darf sie sich nicht | |
wundern, wenn die Bürger wenig Gründe erkennen können, die Regierung | |
auszuwechseln. | |
Dass Merkel im Amt bleibt, ist also die schlechte Nachricht des Wahlabends | |
für Europa. Dass sie möglicherweise mit der SPD in einer Großen Koalition | |
regieren wird, macht diesen Umstand höchstens um eine Prise besser. | |
Die Sozialdemokraten haben noch Restbestände eines keynesianischen | |
Verständnisses, sie wissen, dass man Schulden nicht reduzieren kann, wenn | |
man die Wirtschaft abwürgt, und sie sperren sich auch nicht gegen simpelste | |
Mathematik, weswegen sie auch wissen dürften, dass ein Land wie | |
Griechenland mit einem Schuldenstand von 160 Prozent des BIPs ohne einen | |
Schuldenschnitt nie wieder auf die Beine kommt. Sie werden womöglich da und | |
dort Korrekturen im Detail durchsetzen. Aber eine grundsätzlich andere | |
Politik ist nicht zu erwarten. | |
## Kein Kampf um hegemoniale Deutungshoheit | |
Eine neue Politik muss lange vor einem Wahltermin formuliert sein, die | |
Antworten müssen in ein Programm gegossen und ins öffentliche Bewusstein | |
einsickern. Das ist der einzige Weg, eine hegemoniale Deutung | |
herauszufordern und durch eine neue zu ersetzen. Das ist nicht einmal in | |
Ansätzen geschehen. Im Wahlkampf ist es nicht einmal versucht worden. Der | |
Einzige, der überhaupt etwas in diese Richtung unternahm, war | |
paradoxerweise Helmut Schmidt mit einer Rede zur Makroökonomie auf dem | |
Krönungsparteitag für Peer Steinbrück. | |
Es ist das Drama der europäischen Sozialdemokratie (bei allen lokalen | |
Unterschieden), dass sie meilenweit davon entfernt ist, eine autonome | |
wirtschaftspolitische Konzeption und Vision zu entwickeln. Eine Konzeption, | |
die die neoliberale Hegemonie, das Wettbewerbsfähigkeitsgeschwafel und die | |
Austeritätsdoktrin herausfordern kann. Dass ausgerechnet Jörg Asmussen, das | |
deutsche Gesicht in der EU-Troika, als SPD-Finanzminister einer Großen | |
Koalition im Gespräch ist, ist nur die bizarrste Pointe dieses | |
Sachverhalts. | |
Eine Sozialdemokratie, die sich selbst nicht zutraut, eine kohärente | |
alternative wirtschaftspolitische Konzeption durchzusetzen, wird aber auch | |
keine Bilder entwerfen, die Hoffnung machen könnten. Wahlen aus der | |
Opposition gewinnen kann sie so nur durch Glück – wenn eine konservative | |
Regierung in den Augen vieler Bürger völlig abgewirtschaftet hat. Ist das | |
nicht der Fall, sind Erfolge unmöglich. | |
Der Ausgang der deutschen Wahlen und wie dieser Wahlkampf sich gestaltet | |
hat, sind dafür nur Indikatoren. In dieser Hinsicht haben die in den | |
vergangenen Wochen so vielgescholtenen Leute wie Peter Sloterdijk oder | |
Richard David Precht sogar recht. „Keine Partei wird“, so Sloterdijk, „in | |
den nächsten vier Jahren die Energie aufbringen, die nötig wäre, um das | |
finanzpolitische Wahnsystem zu revidieren, das gute Absichten und schlechte | |
Kenntnisse der politischen Klasse seit 20 Jahren über unseren Köpfen | |
errichtet haben.“ | |
An dieser Analyse ist viel dran, mag man auch das mit dem Gestus der | |
Verachtung vorgetragene Bekenntnis, dass man angesichts dessen einfach den | |
Wahlen fernbleibe, fragwürdig finden. Merkel bleibt im Amt. Schlimmer: Das | |
Fundament ihrer Europapolitik dürfte im Wesentlichen intakt bleiben, | |
unabhängig von den Koalitionsvarianten, in die diese hineinverwoben ist. | |
Und das ist die wirklich schlechte Nachricht für Europa. | |
23 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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