| # taz.de -- Cem Özdemir als Grünen-Chef bestätigt: Keine bessere Alternative | |
| > Plötzlich ider Dienstälteste: Özdemir muss mit dem neuen Bundesvorstand | |
| > Großes leisten. Gelingt es ihm, seine verunsicherte Partei aus der Nische | |
| > zu führen? | |
| Bild: So macht sich Cem Özdemir ein Stimmungsbild vom Parteitag | |
| BERLIN taz | Manchmal sagt ein Wort, das einem heraus rutscht, viel mehr | |
| als eine sorgfältig geplante Rede. Cem Özdemir schaut nach links und rechts | |
| in die Menge. Wo ist Claudia? | |
| Özdemir will sich bei ihr für die gemeinsamen Jahre im Parteivorstand | |
| bedanken, bevor er in seine Bewerbungsrede einsteigt. Ah, da ist sie – in | |
| einer anderen Ecke der Halle als vermutet. „Claudia ist überall“, versucht | |
| Özdemir einen Witz. „Das war schon damals im Bundesvorstand so.“ | |
| Damals? So kann man das auch sehen. Özdemir ist noch nicht mal in den neuen | |
| Vorstand gewählt, schon scheint er sich von einem uralten Kapitel seiner | |
| Biografie verabschiedet zu haben. Die Zeit, in der er mit der bejubelten | |
| Roth die Geschäfte führte, ist abgehakt. Jetzt kommt seine Zeit. Lange, | |
| viel zu lange hatte der 47jährige mit der durchsetzungsstarken Roth eine | |
| Frau aus der Gründergeneration neben sich, ein Schwergewicht, das jeden | |
| Kreischef in der Republik mindestens einmal umarmt hatte. | |
| Roth, Trittin, Lemke, Künast, alle sind weg. Die Grünen haben fast ihr | |
| komplettes Führungspersonal ausgetauscht. Nur Özdemir ist auf wundersame | |
| Weise übrig geblieben. Plötzlich ist er das Schwergewicht, der | |
| Dienstälteste. Özdemir ist jetzt der starke Mann im Bundesvorstand, er muss | |
| den Kurs vorgeben, integrieren, der verunsicherten Partei neuen Mut | |
| einhauchen. | |
| ## Es hätte schlimmer kommen können | |
| Kurze Zeit nach seinem missglückten Scherz bestätigen ihn die 760 | |
| Delegierten erneut im Amt. Sie sitzen vor dicken Papierstapeln im Berliner | |
| Velodrom, normalerweise finden in dem riesigen Rund Radrennen statt – noch | |
| bis Sonntag diskutieren sie hier über die Zukunft der Partei. Auf den | |
| Großleinwänden leuchtet Özdemirs Ergebnis auf. 71 Prozent wollen ihn | |
| wieder, bei der Wahl vor zwei Jahren schaffte er 83 Prozent. | |
| Ein mäßiges Ergebnis ist das, aber es hätte schlimmer kommen können. Doch | |
| davon später mehr. | |
| Özdemir läuft in seiner Bewerbungsrede auf der Bühne mit dem riesigen | |
| Slogan „Miteinander für Morgen“ zu großer Form auf. Geschickt bedient er | |
| alle Bedürfnisse: Er verspricht den regierenden Landesveränden, die mehr | |
| Mitsprache im Bund fordern, sie stärker einzubeziehen. „Wir wären doch | |
| bescheuert, wenn wir nicht stärker auf das Know-How in den Ländern setzen | |
| würden.“ Und er signalisiert, dass er für alle sprechen will. Für die ganze | |
| Partei, für beide Flügel, nicht nur für die Realos. „Viele von euch sind | |
| genervt von dem Gehabe der Flügel.“ Lauter Applaus. | |
| Özdemir zieht alle persönlichen Trümpfe, die man ziehen kann. Er macht | |
| seiner „bildhübschen Frau“, die in der ersten Reihe sitzt und lächelt, ein | |
| Kompliment. Er erwähnt seinen Migrationshintergrund, sein einfaches | |
| Elternhaus, der Vater Analphabet, die Mutter sprach nur gebrochen Deutsch. | |
| „Eine anständige Kita mit gut ausgebildeten Erzieherinnen und einem guten | |
| Mittagessen hätte mir geholfen.“ | |
| ## Kretschmann steht zur Umarmung bereit | |
| Es ist eine gute Rede, sie nimmt die Leute mit, oft muss er inne halten, um | |
| den Applaus und die begeisterten Pfiffe abzuwarten. Als das Ergebnis | |
| bekannt gegeben wird, steht Winfried Kretschmann bereit. Der einzige grüne | |
| Ministerpräsident umarmt Özdemir, ein Bild für die Kameras, aber auch | |
| Ausdruck inhaltlicher Übereinstimmungen. Özdemir stammt auch aus | |
| Baden-Württemberg, der eine ist der wichtigste Realo in den Ländern, der | |
| andere der wichtigste im Bund. | |
| Wie groß die Aufgabe von Özdemir ist, zeichnete sich auf dem Parteitag klar | |
| ab. Die Grünen müssen sich völlig neu sortieren, der Parteitag glich über | |
| weite Strecken einem Selbstfindungsseminar. Die neue Führung muss den | |
| langwierigen Prozess der Neuerfindung zur Zufriedenheit aller organisieren. | |
| Özdemirs Co-Chefin Simone Peter, Ex-Umweltministerin im Saarland, hielt | |
| eine verblüffend müde Rede. Sie wurde mit 76 Prozent klar ins Amt gewählt, | |
| muss sich aber sichtlich erst in ihre neue Rolle finden. Und klar ist auch: | |
| Viele Grüne wollen einen „neuen Sound“ hören, wie es Winfried Kretschmann | |
| in seiner Rede anmahnte. Einen, der auf die bürgerliche Mitte zugeht, | |
| unnötige Polarisierung vermeidet, Unternehmen als Partner begreift und | |
| Mehrheiten schafft. Özdemir muss liefern. | |
| ## Grüne tasten ihr Programm vorerst nicht an | |
| Wie sich das mit dem in den vergangenen Jahren nach links gerückten | |
| Programm in Einklang bringen lässt, ist unklar, zumal die Delegierten | |
| mehrheitlich einen Antrag ablehnten, der als einziger offen dafür | |
| plädierte, das Steuerkonzept zu ändern. Der „Umfang der Maßnahmen“ habe … | |
| Bürger überfordert, heißt es darin – 282 Delegierte teilten die | |
| Einschätzung, 376 nicht. Die Grünen tasten ihr Programm also nicht an, | |
| vorerst. Und Özdemir wird überlegen müssen, ob er in Zukunft dafür wirbt, | |
| Instrumente wie die Vermögensabgabe wieder abzuräumen. | |
| Özdemir, der gerne mit seinen guten Connections zu Unternehmen kokettiert, | |
| agiert also in einem Zwiespalt. Die Linken werden seinen Kurs argwöhnisch | |
| beäugen, die Baden-Württemberger Realos, die 2016 ihrer nächsten | |
| Landtagswahl entgegen sehen, werden Korrekturen fordern. Özdemir muss also | |
| sich widersprechende Erwartungen erfüllen. Und sein Sound, so viel steht | |
| jetzt schon fest, ist nicht wirklich neu. Schließlich macht er den Job | |
| schon seit fünf Jahren. | |
| Selbst der Flügel, der ihn eigentlich stützen müsste, steht nicht | |
| geschlossen hinter ihm steht. Nicht wenige Realos zweifeln an Özdemirs | |
| Führungsqualitäten. Ihm fehle das Gewicht, sagen manche. | |
| ## Ernsthafte Konkurrenz fehlte | |
| Hinzu kommt der wirr anmutende Machtkampf der beiden Realas um die | |
| Fraktionsspitze. Gerade die Grünen aus dem Südwesten, die lieber die | |
| Wirtschaftspolitikern Kerstin Andreae an der Fraktionsspitze gesehen | |
| hätten, hätten sich hier mehr Unterstützung von Özdemir gewünscht. Andere | |
| lasten ihm an, dass er keinerlei Anlass sieht, selbst Verantwortung für das | |
| Wahldebakel zu übernehmen. | |
| Özdemir konnte sich bei dieser Vorstandswahl sicher fühlen, weil ernsthafte | |
| Konkurrenz fehlte. Andere Kandidaten hatten im Vorfeld abgewinkt. Robert | |
| Habeck, Energiewendeminister in Schleswig-Holstein, will sein Amt nicht im | |
| Stich lassen, Tarek Al-Wazir kümmert sich lieber um Hessen. „Einen | |
| Vorsitzenden stürzt man, oder man stützt ihn“, heißt in den engen | |
| Betonfluren des Velodroms. | |
| Özdemir Erfolg hat also auch eine Kehrseite. Er bleibt Chef, weil die | |
| Partei seine Erfahrung braucht. Aber auch, weil sie keine bessere | |
| Alternative gefunden hat. Für diese Gemengelage sind 71 Prozent dann doch | |
| ein okayes Ergebnis. Der Routinier im Vorstand muss also um Anerkennung | |
| kämpfen. Ebenso wie die Neulinge, die ihn umgeben. | |
| 19 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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