# taz.de -- Diskussion über Protest und Moral: Den Leviathan gibt es nicht | |
> Kein Ausweg aus dem Neoliberalismus? Toni Negri und Byung-Chul Han | |
> diskutierten am Mittwochabend in der Schaubühne. | |
Bild: Proteste in São Paulo stimmen Antonio Negri hoffnungsvoll. | |
BERLIN taz | Es ist etwas grundlegend falsch am postmodernen Kapitalismus. | |
Dass die Art, wie wir zunehmend in prekäre Arbeit gezwungen werden, etwas | |
mit unserem Gefühlsleben anstellt, dass das Wegfallen von | |
Sicherheitssystemen bei gleichzeitigem Wachsen der Kontrollmechanismen | |
Effekte auf das Wir-Gefühl hat, all das gehört bereits zum Alltagswissen. | |
Und die Krise, sie scheint zu wachsen, vor allem in den Köpfen, wo sie | |
synonym mit Angst wird, die ein schlechter Ratgeber ist. | |
Wen wundert es also, dass eine Veranstaltung unter dem Titel „Grenzen des | |
Kapitalismus“ in der es darum gehen soll, wie selbst „die Seele nach | |
kapitalistisch-neoliberalen Gesetzen dekliniert wird“ einen großen | |
Theaterraum füllt. Der Co-Leiter der Berliner Schaubühne, Thomas | |
Ostermeier, eröffnete den Mittwochabend mit dem Hinweis, das Theater sei | |
heute der richtige Ort für eine solche philosophische Diskussion. Das sagt | |
einiges über die Veränderung der Orte der Wissensproduktion aus, gefolgt | |
waren der Einladung jedenfalls 400 Leute. | |
Der italienische Politikwissenschaftler Toni Negri und der Berliner | |
Philosophieprofessor Byung-Chul Han waren geladen und wie so oft geriet die | |
Philosophie im Übergang vom Wissen zur Meinung zum Elend. Byung-Chul Han, | |
seit seinen Thesensammlungen zur „Müdigkeits-“ bzw. | |
„Transparenzgesellschft“ in den Feuilletons sehr beliebt, gab eine | |
Steilvorlage mit der Behauptung, der Kapitalismus habe bis zu unserem | |
Daumen, der nur noch zum Liken tauge, unsere Körper so vereinnahmt, dass | |
wir mit dem Ende des Körpers konfrontiert seien, was wiederum das Ende der | |
Politik bedeute. „Nur das Denken macht frei“, verkündete er. Ob ihm die | |
Spur zur idealistischen Philosophie, die er damit legte, so klar war, | |
wusste man nicht so genau. Denn wie sagte das der Musiker Schorsch Kamerun | |
einmal: „Im Theater geht es immer um Vollmeinung.“ | |
Es folgte Toni Negris Vortrag. Unter dem Titel „Die Krise leben“ skizzierte | |
er vier Subjektivierungsweisen, die der Neoliberalismus und seine Krisen | |
hervorgebracht hätten. Als Verschuldete, Vernetzte, Verwahrte und bloß | |
Vertretene sei der Zugang zur politischen Handlungsfähigkeit abgeschnitten. | |
Die Kategorien dienen der Analyse der Effekte, die prekäre Beschäftigung, | |
das immer umfassendere Schuldverhältnis der Einzelnen gegenüber der | |
Gesellschaft und die Ausbeutung der kognitiven Fähigkeiten auf die Subjekte | |
haben. Diese Veränderungen analysierte er entlang der Veränderungen der | |
kapitalistischen Produktionsweise im Übergang zum Neoliberalismus. | |
## Neuer Zyklus der Kämpfe | |
Der Wandel der Arbeit und die neue technische Zusammensetzung des | |
kognitiven Proletariats habe das Leben in eine Krise gestürzt, aber die | |
Frage hinter all dem ist für ihn, wie wir frei sein können. Diese Freiheit | |
sucht er gerade nicht im Denken, sondern im Gemeinsamen, das sich durch die | |
Krisen hindurch in einem neuen Zyklus der Kämpfe ausdrücke. Es sind die | |
Proteste, die sich ausgehend von Tunesien bis São Paulo gezeigt haben, die | |
ihn hoffnungsvoll stimmen. | |
Das war Han zu optimistisch. Als „intelligentes Wesen“ habe der | |
Kapitalismus sich längst gegen jeden Widerstand immunisiert. Gegen Negris | |
Multitude brachte er die Solitude ins Spiel: es gehe nicht um Klassenkampf, | |
die Solitude kennzeichne die gesellschaftliche Verfassung. Die Umkehrung | |
von Freiheit in Zwang sei total. Der Ausweg sei der globale Burn-out, der | |
Mensch habe immer nur durch die Katastrophe gelernt. | |
Dass Han anschließend den Ordoliberalen Alexander Rüstow ins Spiel brachte | |
und mit ihm an die Verantwortung der Politik erinnerte, eine „Vitalkraft“ | |
zu erzeugen, machte die Unterschiede zwischen Negri und Han endgültig | |
offenkundig. | |
Gegen soviel Totalitätsdenken musste Negri in operaistischer Tradition | |
wieder auf die Kämpfe verweisen, die jenseits der Frage von Erfolg und | |
Misserfolg ein Wissen produzieren, auf welches immer wieder rekurriert | |
werden kann. Man wollte ihm geradezu dankbar sein, dass er daran erinnerte, | |
dass das Kapital kein allmächtiger Leviathan ist, sondern ein Verhältnis: | |
Ohne lebendige Arbeit gibt es auch kein Kapital. Der Solitude, ihr bliebe | |
am Ende bloß das Heilige als Bezugspunkt. Die Einsamkeit, sie könne nur | |
vorgestellt werden als etwas zutiefst Unmenschliches, so Negri. Insofern | |
gehe es gerade nicht um unsere Seelen, sondern um unsere Beziehungen. | |
Dass es selbst in den schrecklichsten Momenten Widerstand geben könne, der | |
sich nicht aus Moral, sondern aus einer rationalen Wissbegier speise, das | |
war das schöne Schlusswort Negris. Und legte nochmal den Link zum Wissen, | |
weg von der moralischen Meinung. | |
24 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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